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Balanceakte auf der Tischkante – „electronic music theatre“ der Künstlergruppe „Arbeit“, Frankfurt am Main. Foto: Deutschlandfunk, 2005
Balanceakte auf der Tischkante – „electronic music theatre“ der Künstlergruppe „Arbeit“, Frankfurt am Main. Foto: Deutschlandfunk, 2005
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Experiment, Elan, E-Gitarren, Elektronik

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Rundfunk im Dienst avancierter künstlerischer Handschriften: das „Forum neuer Musik“ in Köln
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Experimentierfreude beim „Forum neuer Musik“ auch in der Ausgabe 2005. Darin zehrt es noch unterm postmodern-neoliberalen Zeitgeist von der Tradition künstlerischen Aufbruchwillens, hält dessen Elan fest, bleibt zugleich reserviert gegenüber Verengungen. Der Standard „kompositorischer Techniken“ sei, so Frank Kämpfer zum Auftakt des von ihm zum vierten Mal kuratierten Märzfestivals im Deutschlandfunk-Sendesaal, „bekannt, erlernbar, anwendbar, auch: ignorierbar“. Ignorierbar ist jedenfalls nicht, dass der Deutschlandfunk Köln in Gestalt des einzigartigen „Forum neuer Musik“ seinem Kulturauftrag nachkommt – auch ohne große Namen, die Publikum und Feuilleton über Verwerfungen hinwegtrösten könnten. Statt neuer-alter Unübersichtlichkeit mit „stringenten“ Programmen entgegenzutreten, beharrte auch die Forum-Ausgabe 2005 auf der ihr eigenen Gratwanderung – mit bewegenden und verstörenden Eindrücken. Zwei Porträtkonzerte, ein Klavier-Recital, eine multimediale Performance beschrieben die differenten Bahnkoordinaten und Fluchtgeschwindigkeiten von Kunstentwürfen nach dem Urknall des Verbindlichkeitsverlustes.

Elektroklang wabert durch den Sendesaal. Vier Herren vollführen einbeinige Balanceakte auf der Tischkante. Arme als Tragflächen. Schlussbild einer Performance zwischen konkreter und synthetischer Musik, Theater und Live-Hörspiel. „Jugend. Volume 1: Freud“ schlagzeilten dazu ihre Urheber, die Frankfurter Künstlergruppe „Arbeit“. Mit der Uraufführung ihres „electronic music theatre“ hatten die in Takeoff-Position formierten Freudianer Augst, Daemgen, Dézsy, Korn nicht nur ihr eigenes, höchst eigenwilliges Projekt auf die Zielgerade geführt, vielmehr dem „Forum neuer Musik 2005“ zu Festivalschluss noch nachträglich sein Symbol geliefert: Aufbruchsmoment und Absturzgefahr ganz nah beieinander – das Wagnis, ohne das kein Kunstentwurf auskommt.

Identität. Was jeder will und wollen muss, wurde via sublimer Pluralbildung mottobildendes Generalthema: „Identitäten“. Nicht als Suchen in höheren Regionen, wo über allen Wipfeln Ruhe ist. Im Gegenteil. Es war ein Wühlen in der Erde, ein Sich-Verbeißen im Untergrund, in der Geschichte des eigenen Selbst, im Verdrängten, im Verlorenen auch. Da wurde nach der „Uhrzeit im Paradies“ gefragt (Sidney Corbett), da ging der Blick zurück in die „verlorenen Kindertage“ (Iris ter Schiphorst), zum „Beat“ (Ralph van Raat), zur „Jugend“ (Künstler-AG „Arbeit“), die abhanden gekommen ist.

Dass indes manches am Überraschungscoup der „Arbeits“-AG unverständlich blieb, stand auf einem anderen Blatt. Ein abgeschlossenes (Frankfurter) Hochschulstudium, um die Höhe des Anspielungshorizonts zu erreichen, war fürs Freud-Projekt durchaus hilfreich. Darin unterscheidet sich Frankfurt beispielsweise von Gustav Mahler, dessen „Ich bin der Welt abhanden gekommen“ neben anderen Erinnerungsstücken ins elektronische Musiktheater untergepflügt wurde. Sublimer Wehmutston: „Jugend“ ist vorbei, andererseits muss sie irgendwie doch unser Sehnsuchtsziel bleiben.

Eine Spur, die im Klavierabend des jungen niederländischen Pianisten Ralph van Raat, Jahrgang 1978, wiederkehrte. Überschrieben war jener nämlich mit einem Topos verflossener musikalischer Jugendkultur: „Beat“. Ironischer Gestus ohne tiefere Bedeutung? Die erhabene Pianistik van Raats jedenfalls ignorierte solchen Schalk. Andererseits: Der zwischen Bach und Louis Andriessen aufgespannte Horizont zeitgenössischer holländischer Klaviermusik mit Werken von Schat, Spaan, Kadar, van Roosendael, Franssens und Vanessa Lann verblieb letztlich im Ephemeren. Nicht anders als der „Beat“.

So musste das Neue am „Forum neuer Musik 2005“ in zwei Porträtkonzerten gesucht und gefunden werden, wenngleich auch hier die Eindrücke alles andere als einheitlich ausfielen: Zur Enttäuschung geriet die mit Spannung erwartete Uraufführung „Electric Guitar Concerto“ des US-amerikanischen Komponisten Sidney Corbett. Nicht nur, dass die E-Gitarre in diesem Werk ihre Herkunft aus der Rockmusik schlichtweg leugnete, das Spiel des Solisten Seth Josel vermurmelte zusehends. Offenbar hatte das frühere MusikFabrik-Mitglied ebenso wie seine Kollegen einen schlechten Tag erwischt. Ungewohnte Koordinations- und Intonationsprobleme, etwa im Ensemblestück „Die Stimmen der Wände“, schienen zu signalisieren, dass sich das Landesensemble mit seinem expressiven Musizierstil in der Melodienseligkeit Corbetts weder wiederfinden konnte noch wollte. Jedenfalls blieb dessen Anspruch, „an die Essenz dessen heranzukommen, was Musik ist und sein kann“, durch die zu Gehör gebrachten Klänge uneingelöst. In Corbett, der es für „arrogant“ befindet, die „musikalische Sprache erweitern“ zu wollen, begegnete an diesem Abend das Paradoxon eines Komponisten, der Musik so organisiert, dass sie nicht komponiert klingt.

So war es an der Vierten im Bunde, an Iris ter Schiphorst, die Dinge gerade zu rücken und den Kunstanspruch des Komponierens mit einem fulminanten Wurf einzulösen. Als Auftragswerk des Deutschlandfunks kam als Höhepunkt des „Forums neuer Musik 2005“ ein Werk zur Uraufführung, in dem konkrete Instrumentalklänge durchgängig verstärkt und durch Zuspielbänder weiter angereichert und aufgeladen wurden. Neben zwei Instrumentalensembles, (Ensemble 01, trio e-vent) agierten und harmonierten E-Gitarre (Daniel Göritz), präpariertes Klavier, Sampler, Flöte, Geige und Cello. Hier endlich klang die E-Gitarre wie eine solche, ohne doch das Klanggewebe zu dominieren oder gar aufzusprengen.

Indes schürfte auch ter Schiphorst im Autobiographischen. „aus kindertagen: verloren“ streut in einen hochorganisierten Ensemblesatz Kinderverse und Romanzitate („Geht das Zuhause flöten, spielt das Töten“) – ein Verfahren, dem die Hamburgerin auch in anderen Werken nachgeht wie etwa in „...und Pommerland ist abgebrannt“ für drei mit CD-Zuspiel ergänzte Bläser: Eine Komponistin findet ihr Thema – Erwachsene Menschen begegnen erwachsenen Klängen.

Für die Gewinn- und Verlustrechnung des „Forum neuer Musik 2005“ erwies sich dieses Porträtkonzert als eminenter Glücksfall. An der exzellenten Interpretation eines so ausgetüftelten Werkes wie „aus kindertagen: verloren“ hatten dabei neben den ausübenden Musikern die DLF-Sendesaal-Techniker besonderen Anteil: Rundfunk im Dienst avancierter künstlerischer Handschrift. Und es gab – bevor es vergessen wird – noch ein Ergebnis: Der (künstlerische) Zweifel an der Erweiterungsfähigkeit wie -bedürftigkeit der musikalischen Sprache wurde (künstlerisch) korrigiert. Es geht doch.

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