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Ein Mann in einfacher Kleidung sitzt auf einem Hocker. Von oben wird er stark beleuchtet. Rechts steht ein Mann in Uniform und betrachtet den sitzenden und Unterlagen. Links schaut ein schwarz bekleideter den beiden zu.

Aus Mensch wird Exemplar: Wozzeck (Stéphane Degout) unter den prüfenden Augen vom Hauptmann (Thomas Ebenstein). Foto: Jean-Louis Fernandez/Opéra de Lyon

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Expliziter Wozzeck: An der Oper Lyon macht Richard Burnel aus Alban Bergs „Wozzeck“ mehr Menschenexperiment als das Original

Vorspann / Teaser

Alban Bergs „Wozzeck“ aus dem Jahre 1925 ist ein Klassiker der Moderne. Es kann gut sein, dass sich die exemplarische Verschränkung von Musik und Text – vor allem die verknappende Genialität von Georg Büchners Sprache – außerhalb des deutschen Sprachraums nicht ganz so plausibel erschließt wie einem muttersprachlichen Publikum. Das Leiden der Kreatur scheint da ja oft in prägnanten Halbsätzen durch. Allein schon der Blick in den „Abgrund Mensch“, von dem der Titelheld einmal spricht, hat es in sich. Und Bergs Komposition setzt sogar noch einen drauf. Diese erste atonale Oper hat gleichwohl das Mit-Gefühl im Visier und kommt beim Publikum auch längst so an.

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Bei der jüngsten Neuinszenierung des Werkes an der Oper Lyon durch den Hausherrn Richard Brunel zog das Werk jedenfalls das heimische Publikum in den Bann. Für den deutschen Besucher bleibt bemerkenswert, dass auch in der fünften Vorstellung der Serie im voll besetzten Haus wieder auffallend viele junge Zuschauer zu sehen waren.

Dass auch sie aufmerksam bei der Sache waren, liegt sicher hauptsächlich am musikalischen Sog, den Daniele Rustioni mit dem Ochestre de l’Opéra de Lyon zusammen mit dem exzellenten Protagonisten-Ensemble entfaltete, aber wohl auch an der szenischen Umsetzung.

Brunels Bühnenbildner, Etienne Pluss, hat vor sieben Jahren an der Oper in Erfurt schon einmal für Enrico Lübbes Wozzeck-Inszenierung einen faszinierenden optischen Nenner für die Geschichte des geschundenen „guten Menschen“ geschaffen, der nur der Spielball der anderen ist, zum Mörder wird und sich am Ende selbst umbringt. Und der trotzdem nach Kräften versucht, etwas von der Welt zu verstehen und selbst „richtig“ zu leben. Damals waren es lauter zellenartige Räume, zwischen denen sich Wozzeck wie in einem Hamsterrad abstrampelt.

Diesmal ist es ein Versuchslabor. Ein grau ausgeschlagener Raum mit einem leuchtenden Band an der Rampe. Und einer Zwischenwand im Hintergrund, die bei Bedarf den Raum erweitert und zusätzliches Personal ins Spiel bringt. Von oben ragt ein (von wem auch immer) ferngesteuerter Schwenkarm mit einem Scheinwerfer so ins Bild, als würde er vor allem für das rechte Licht sorgen, das geheimnisvolle Mächte brauchen, um ihr Versuchskaninchen Wozzeck im Blick zu behalten, um sein Verhalten zu protokollieren. So entsteht eine Atmosphäre irgendwo zwischen Kafka und Big Brother.

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Ein paar medizinische Liegen stehen im Raum, auf einem Hocker sitzt abgeschlafft ein Mann mittleren Alters. Um ihn herum ein Mann im weißen Kittel, einer in Uniform und zwei in schwarzen Anzügen. Über alledem hängt ein großer Gelenkarm an dessen Ende eine große Lampe angebracht ist, die die Menschen von oben herab anstrahlt.

Wozzeck (Stéphane Degout) ist den Händen der Versuchsleiter (Thomas Faulkner, Thomas Ebenstein) ausgeliefert, weiß davon aber wenig. Der Leuchtarm (Bühne: Etienne Pluss) bringt eine weitere Unbekannte in die Gleichung. Ob die Versuchsleiter und deren Handlanger (Hugo Santos und Alexander de Jong) wissen, von wem die Gesamt-Szenerie durchleuchtet wird? Foto: Jean-Louis Fernandez/Opéra de Lyon

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Brunel setzt bei dem Zynismus an, mit dem der Doktor und der Hauptmann beobachten, wie Wozzeck auf ihre absurden Experimente reagiert. Daneben tauchen immer wieder zwei, den beiden offensichtlich übergeordnete Herren als Auftraggeber und Beobachter des Menschenexperimentes Wozzeck auf. Hugo Santos und Alexander de Jong vom Opernstudio des Hauses sind die beiden Handwerksburschen, denen Brunel hier zu einem exemplarisch aufgewerteten Nebenjob verhilft. Bei dem so konfigurierten Menschenexperiment geht es offensichtlich darum, zu erkunden, wie weit man es mit der Entwürdigung eines Individuums treiben kann, bis es Widerstand leistet und sich wehrt. Auf die Spitze getrieben wird das vor allem durch die Einbeziehung von Marie in das Experiment. Als Bühnenkasten werden deren Wohnzelle (schäbig, aber mit Flachbildschirm und Kühlschrank) und das Schlafzimmer dahinter bei Bedarf von der Seite in den Laborraum geschoben. Der bei Robert Watson bewusst bieder wirkende Tambourmajor scheint hier ein und auszugehen, repariert auch mal was beziehungsweise installiert die Überwachungskamera, gehört also zum „Team“. Wenn sie mit ihm hinterm Vorhang verschwindet, bringt das den Jungen jedenfalls nicht aus der Fassung. Inwiefern Marie in das, was hier eigentlich läuft, „eingeweiht“ ist, bleibt in der Schwebe.

Dass dieses Experiment am Ende schief geht, war von den zwei Herren und ihren Helfern vorort, dem Doktor und dem Hauptmann so wohl nicht eingeplant. Wird aber in Kauf genommen – mehr Konsequenzen als zusätzlichen Schreibkram dürfte das nicht haben.

Menschliche Abgründe und künstlerische Höhen

Zum Schluss verzichtet die Inszenierung auf die Naturmetaphorik der Vorlage. Es ist ein Mord in der Küche, den man heute der Rubrik Beziehungstat zuordnen würde. Als Wozzeck Leute kommen hört, ersticht er sich selbst – ziemlich theatralisch – mit dem Messer, mit dem er Marie zuvor ermordet hat. Vom Abgrund Mensch zum Mensch im Abgrund – ohne, dass es dafür einen See braucht. Beklemmend ist, wenn der Junge für seine beiden toten Eltern, die hier wie Puppen am Küchentisch sitzen, den Tisch deckt und den Fernseher einschaltet. Von dort erklingen auch die Kinderstimmen.

Stéphane Degout ist in der Titelrolle das exzellente, höchst wortverständliche vokale Kraftzentrum des Protagonistenensembles. Ambur Braid ist eine selbstbewusst auftrumpfende, dann aber auch an sich zweifelnde Marie mit darstellerischem Charisma.

Thomas Ebenstein setzt als Hauptmann seine hohen Töne prägnant ein Thomas Faulkner gibt als Doktor den „seriösen“ Wissenschaftler, der freilich den Scharlatan nicht so ganz verleugnen kann.

Am Ende war der Beifall einhellig. So gesehen war das „Experiment Wozzeck“ dann doch erfolgreich.

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