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Exzess in Schnittchen

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Musikfest zum 20-jährigen Bestehen der MGNM
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Zwanzigjährige Menschen neigen dazu, ihren Geburtstag exzessiv zu feiern. 20 Jahre Bestehen feiernde Vereine – das ist eher ein Empfang an Stehtischen mit Sekt und Schnittchen. Die Münchner Gesellschaft für Neue Musik (MGNM) wählte eine Synthese: kein Sekt, aber ein Exzess schon, wenn auch ein streng nach dem Vereinszweck gebildeter, aus: Schnittchen.

In ihren zwei Jahrzehnten hat die MGNM – stets im Wesentlichen ein kleines Häuflein Unentwegter als Agens – versucht, in der beklagenswerten Diaspora der Tonkunst, die Neue Musik heißt, Missionsarbeit zu leisten, Interessenten aufzusammeln, woher sie auch immer kommen. Das wesentlichste Instrument zu letzterem waren die jährlichen, zuletzt zweijährlichen Musikfeste, die ohne wesentliche „Zugangskontrolle“ Musikern, Komponisten aus der Region eine Auftrittsmöglichkeit unterhalb der hohen Schranken der etablierten Veranstaltungsreihen geben. Die Resultate waren – leicht vorstellbar – von stark wechselnder Qualität. Die sich ergebenden Diskussionen über mehr Einflussmöglichkeiten auf das eigene Programm führten zu Sonderveranstaltungen mit einem gewissen Einladungscharakter, zum Beispiel ein Konzert von Kindern und für Kinder, eine Kooperation mit dem Deutschen Museum („Mechanische Musik“), eine Zusammenarbeit mit dem München-Schwabinger Kunstausstellungs-Tag „Kunst im Karrée“.

Naheliegend also, zum Jubiläum wieder eher einzuladen und mit der bisherigen „Vereinslebensleistung“ im Rücken bei diversen Sponsoren anzufragen, die man sich sonst weniger zu fragen traut als den ständigen Sponsor: die Stadt, deren Namen man ja nicht umsonst trägt. Es gelang, ein zweitägiges Programm im Heimat gewordenen „schwere reiter“ am Leonrodplatz auf die Beine zu stellen mit einem spektakulären abschließenden Höhepunkt. Den Anlauf dazu bildete eine Art Wiederaufnahme-Konzert von als bedeutsam empfundenen Darbietungen vergangener Jahre, die Wiederbelebung des schon länger schweigenden „Improvisors Pool“, ein Gastkonzert der Augsburger Gesellschaft für Neue Musik und eine Podiumsdiskussion.

Der Kürze halber von diesen Programmteilen nur zur Diskussion: Thema für das Podium (Theo Geißler als Moderator, Julia Cloot, Christian Z. Müller, Nikolaus Brass von den Neue-Musik-Gesellschaften Deutschland, Augsburg, München) war … – ach, egal, letztlich sah sich das Podium dazu gezwungen – auch durch polemische Einwürfe aus dem Publikum –, altbekannte Säue durchs Dorf zu treiben: „Mehr“ müsste getan werden für die Neue Musik, im Schulunterricht, über die „Vernetzung“ via Internet, um die beiden notorischsten zu nennen. Dabei wird die Debatte über die richtige schulische Mischung aus Naturwissenschaft, Sprachen und Musischem niemals beendet werden und schon gar nicht zum Vorteil der Musik. Und das Internet ist größtenteils verkommen zu einer Fortsetzung des im Englischen so schön missverstehbar als „chit chat“ Bezeichneten (wenn nicht Schlimmerem) unter Hinzumischen eines milliardenschweren Werbegeschäfts, oder mit anderen Worten: Ein funktionierender freier musikästhetischer Diskurs im Internet ist ungefähr so wahrscheinlich wie ein zeitpolitisches Dossier in der „Bild“. Das Schlusswort von Vereinsvorstand Nikolaus Brass hatte insofern etwas fast rührend kafkaeskes: Das „hoffnungslose Hoffen“ besteht darin, den Tropfen auf den heißen Stein wenigstens erzeugt zu haben.

Dann startete der Exzess in Schnittchen: 20 Stücke von 20 Komponisten in einem Konzert. Der Auftrag war: jeweils unter vier Minuten für mindes-tens 12 von 16 Musikern einer Kammerbesetzung aus Streichquintett mit Bass, Bläser aus Holz und Blech, Akkordeon, E-Gitarre, Klavier, Schlagwerk mit möglicher Zuspielung. Um die Verlängerung des Konzerts durch Beifalls-Pausen bis nach Mitternacht zu verhindern, konfektionierte Dirigent Peter Hirsch in vier Abteilungen zu je fünf Stücken.

Es wurde fast alles geboten, was man mit der gegebenen Besetzung anfangen kann: deftigster, vielgestaltiger „Lärm“ (Norbert Stammberger, Leopold Hurt), feinsinnig Hingetupftes, sei es als seliger Nachklang alter reiner Harmonie (Peter Michael Hamel), eine sanfte angedeutete Chaconne mit Scherzando-Akzenten (Eva Sindichakis), eine feingliedrige (48nord) oder flächigere (Michael Emanuel Bauer) Collage musikalischer Fundstücke. Es wurden die spektral-synthetischen Oberton-Ballungen (Bernd Redmann, Johannes X. Schachtner) ebensowenig vermisst, wie formale Experimente, etwa eines Oboenkonzerts en miniature (Christoph Reiserer), Mikrotonales mit gegeneinander verstimmten Instrumentengruppen (Alexander Strauch), die bekenntnishafte Nutzung der Psychoakustik zur Be-Rührung der Hörer (Gloria Coates) und eine Hommage an den kürzlich verstorbenen Josef Anton Riedl in einer Mischung aus Burschikosem und feinst ausgehörter Instrumentierung (Nikolaus Richter de Vroe). Es fehlte auch nicht die – mehr oder weniger – billige Provokation (Moritz Eggert), von Dirigent wie Musikern mit anderthalb verdrehten und einem halben zwinkernden Auge bedacht.

Rezensent muss konzedieren, schließlich von den 20 Schnittchen ohne Sekt einigermaßen überfressen gewesen zu sein, sich aber ausgesprochen wohl dabei gefühlt zu haben. Auch weil dieser 20-fache Tanz auf dem Bierdeckel eines so schön gezeigt hat, dass die entgrenzte Kunst Musik – in den richtigen Händen – sich ihrer einzigen wirklichen Grenze, nämlich der Zeit, auf paradoxe Weise entledigen kann: Keines der kurzen Stücke wirkte zu kurz und das insgesamt doch lange Konzert nicht zu lang. Die musikalische Fallhöhe war dabei derart schwindelerregend, dass die zirka 10 Stunden Proben ähnlich anmuten wie die ans absurde grenzenden Bemühungen der Speed-Kletterer am El Capitan. Solche Rekorde sind nur mit versierten Profis zu stemmen, kein Wunder also, dass reichlich „alte Bekannte“ aus der lokalen Neuen-Musik-Szene in der Besetzung begrüßt werden durften. Peter Hirsch als Leiter dieser rapiden Gipfelbesteigung in 20 Seillängen war dem verbalen wie musikalischen Vernehmen nach ein nicht nur dringend benötigter, sondern auch erfahrener und sturmfester Anführer. Eine Art Ritterschlag gab es für das Unternehmen vom Bayerischen Rundfunk, der die letzte Probe und das Konzert mitschnitt, was der MGNM bisher noch nie passiert war. Eine CD-Veröffentlichung wird diskutiert: Das Verdunsten des Tropfens ließe sich durch ein Tondokument erfreulich verzögern. Am Ende – es ist nicht auszudenken – führte es zu einem Momentum für die MGNM, auf dass man auf Unternehmungen dieser Kühnheit nicht wieder ein bis zwei Jahrzehnte warten muss. Beifall bis zum Trampeln für Ausführende und Komponisten und das verdient genug.

Programmheft zum Nachlesen unter http://mgnm.de

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