Spezielles, mitunter entlegenes Opernrepertoire liegt dem Theater Osnabrück seit etlichen Jahren am Herzen. Uraufführungen von Sydney Corbett und Kaija Saariaho, Wiederentdeckungen von Ferruccio Busoni, Manfred Gurlitt und Charles Gounod waren in dem im Schatten des mächtigen Doms gelegenen Haus zu erleben. Nun, zur Eröffnung der Spielzeit, in der Osnabrücks neuer Intendant Ulrich Mokrusch die Leitung übernimmt, abermals eine Wiederentdeckung: „Fremde Erde“ von Karol Rathaus.
Ein Riesenerfolg für Karol Rathaus war die Uraufführung seiner ersten Oper „Fremde Erde“ im Jahr 1930 an der Berliner Staatsoper sicher nicht. Auch wenn mit Erich Kleiber einer der damals renommiertesten Dirigenten am Pult stand und nach der Uraufführung bereits zwei Neuinszenierungen folgten. Trotzdem stieß der abendfüllende Vierakter bei der Kritik weitgehend auf Ablehnung. Eine Chance, sich im Bereich Musiktheater weiter zu erproben, wurde dem Juden Karol Rathaus, 1895 in Ostgalizien geboren, durch die politischen Entwicklungen in Deutschland verwehrt. Schon 1932 verließ er das Land, siedelte er erst nach Paris über, dann nach London und ging von dort aus in die USA, wo er 1954 verstarb. Mit ihm, dem Komponisten, verschwand auch „Fremde Erde“ vom europäischen Terrain – bis 1991 in Bielefeld eine Neuinszenierungen herauskam. Nun, 30 Jahre später, ist es das Theater Osnabrück, das dem Werk neues Leben einhaucht und dessen musikalischen Wert dokumentiert.
Karol Rathaus, Schüler von Franz Schreker in Berlin, saugt alles auf, was seinerzeit aktuell war. Schreker natürlich, aber auch Hanns Eisler, Kurt Weill, Ernst Krenek – und den Jazz. Auch Strawinsky und Bartók klingen an. Ein Mix verschiedenster Ästhetiken, wodurch die Musik über mehr als 150 Minuten lang stets interessant, farbig, spannend und atmosphärisch dicht bleibt.
Die Geschichte – Kamilla Palffy-Waniek schrieb das Libretto – ist die einer „klassischen“ kapitalistischen Ausbeutungsmaschinerie, die um des Profits willen Menschen verheizt. Menschen, die verzweifelt aus ihrer Heimat fliehen, um andernorts ihr Glück zu machen (Ähnlichkeiten mit Verhältnissen im Hier und Jetzt sind unübersehbar). In Rathaus‘ „Fremde Erde“ sind es Osteuropäer, die in Südamerika in Salpeterminen schuften. Deren Besitzerin Lean Branchista profitiert davon. Doch Semjan macht sich zum Anführer jener Emigranten, die gegen miserable Arbeitsbedingungen aufbegehren, ja revoltieren. Doch Lean und Semjan, die beiden Antagonisten, verlieben sich – Leidtragende ist Anschutka, Semjans Verlobte. Sie wird die Salpeterfabrik zusammen mit ihrem Vater verlassen, sehnt sich sehr nach ihrer Heimat, strandet aber in New York – wohin auch wenig später Semjan selbst unfreiwillig zieht und überraschend auf seine ehemalige Verlobte stößt. Die jedoch ist dem Tode nahe und stirbt, Semjan wünscht sich sein eigenes baldiges Ende.
In Osnabrück inszeniert Jakob Peters-Messer, Markus Meyer übernimmt die Ausstattung. Es sind einfache Bilder für die vier Opernakte: Menschen in Hochseecontainern auf der Überfahrt, ein in Gold getauchtes mondänes Anwesen der Kapitalistin, dann die unwirtliche, kalte Welt industrieller Produktion und schließlich abermals Container im Hafen von New York, auf der eine grotesk überzeichnete Freiheitsstatue prangt. In diesen Bildern entfaltet Peters-Messer die Geschichte in all seiner Brutalität, lässt aber auch Raum für zarte, intime Liebesgefühle zu. Ort und Zeit sind beliebig, die Akteure agieren, wie es das Libretto offensichtlich vorgibt: mal aggressiv, mal verständnisvoll und einander zugeneigt. Der Musik kommt die Aufgabe zu, das Bühnengeschehen sinnlich und in all seinen Emotionen nicht nur zu kommentieren, sondern überhaupt erst zu befördern.
Das gelingt Andreas Hotz am Pult des Osnabrücker Symphonieorchesters ganz hervorragend. Ihm steht ein breit aufgestellter Orchesterapparat zur Verfügung, reichend von Tuba, Kontrafagott über Klavier, Harfe, Schlagwerk, einer ganzen Batterie an Holz- und Blechbläsern, Streichern, später sogar Orgel zur Verfügung. Karol Rathaus instrumentiert überaus facettenreich, kaum ein Augenblick, der nicht Neues bringt. Dabei erweist sich seine Musik insgesamt als sehr sängerfreundlich, wenngleich sie starke, bisweilen dramatische Stimmen verlangt. Osnabrücks Ensemble hat sie: Susann Vent-Wunderlich ist eine egoistische Lean Branchista, James Edgar-Knight ihr fieser Adlatus Sennor Esteban; Jan Friedrich Eggers lässt als Semjin keinen Zweifel an seiner aufrührerischen Mission, Olga Privalova ist eine am Ende zutiefst zerstörte Anschutka. Die kleineren Rollen sind bestens besetzt, Opern- und Extrachor, von der Regie eher statisch geführt, singen kernig.
„Fremde Erde“ auf das Spielzeit-Programm zu setzen: eine mutige und gute Entscheidung!
Weitere Termine: 8., 21. und 26. 10.; 7. 11. 2021