Am Ende dieser Premiere muss man erstmal durchatmen. Wenn die Musik gleichsam in jene Welt entschwindet, zu der Hans Werner Henze selbst schon unterwegs war, als er daran schrieb. Mit Erschöpfungszuständen zum Tode hin. Es ist eine Spätwerk-Klangwelt, die Henze zur sperrigen Poesie seines Wunsch-Librettisten Christian Lehnert da meisterhaft auffächert. Aber eine, die der Genussmensch Henze geschrieben hat.
In einer Gesprächsrunde vor der Premiere hatte der Intendant der Oper in Halle, Axel Köhler, davon berichtet, wie er einst zu Henze nach Italien gerufen wurde, weil die für ihn geschriebene Counterpartie mit den Möglichkeiten seiner Stimme in Übereinstimmung gebracht werden musste. Das gelang famos (Köhler sang in der Berliner Phaedra-Uraufführung die Artemis), ist ihm aber als Tag des Sinnengenusses in Erinnerung geblieben. Um irgendwelche Dogmen der Moderne hat sich Henze ja eh nicht gekümmert. Auch wenn „L’Upupa“ und „Gisela“ eine märchenhafte Abschieds- beziehungsweise
Erinnerungs-Aura vor sich hertragen, so ist wohl seine „Phaedra“ der prächtige und vor allem überraschend vitale Schlussstein im Gemäuer eines grandiosen Lebenswerkes für die Opern-Bühne.
Aparte Schönheit dieser Musik
Und genau diesem kraftvollen Sog kann man sich an diesem denkwürdigen Abend in der Oper Halle nicht entziehen. Er erwächst aus der beklemmenden Eloquenz, die die vokalen Fähigkeiten der Sänger fordert und aus der aparten Schönheit dieser Musik. Damit greift die erste Aufführung einer Henze-Oper in Halle schon bald nach dem aufgeschlossenen Zuhörer und zieht ihn in ihren Bann.
Genau diesem Sog entspricht der szenische Psychothriller, den Regisseur Florian Lutz aus diesem Lehrbeispiel des Obsessiven gemacht hat. Ausstatter Sebastian Hannak hat dazu effektvoll ein offenes, weißes Wohncontainer-Labyrinth auf die Drehbühne gestapelt. Die bewusste Verwirrung des „Wer bist du und wenn ja wie viele?“, das einen der reißerisch pfiffigen Flyer ziert, findet sich in den egalisierenden Kostümen wider, die Menschen und Götter zum Verwechseln ähnlich machen. Das treibt die Irritation, auch die der Zuschauer, auf die Spitze. Die blonden Lockenperücken zu den Mehrtagebärten gehören zu einer Melange aus Marilyn, Hipster und Conchita Wurst, jenseits der Geschlechterrollen. Wo doch alles mit einem verhängnisvollen Griff über diese Grenze anfängt: Phaedra begehrt den Stiefsohn Hippolyt, der sich ihr verweigert und dann noch beim Vater Theseus als Vergewaltiger denunziert wird. Was auf der Bühne dazu führt, dass Phaedra theatralisch in der Badewanne endet und nur noch das abgetrennte Haupt des getöteten Sohnes weiter singt. Da steht längst die ganze Welt durch ihre eigene Spiegelung auf dem Kopf. Und die Götter fangen an, die Geschichte im Jenseits zu korrigieren. Vom Diesseits aus wirkt das zwar makaber und grotesk, zugleich aber auch irgendwie heiter. Da, wo Obsessionen aufsteigen, der Tod das Spiegelbild der Liebe ist, und im Jenseits alles wieder auf Anfang gestellt wird, da kann es nicht geradlinig und eindeutig zugehen.
Tod als Spiegelbild der Liebe
So faszinierend die Szene und so suggestiv die am Anfang einmal wie eine Woge aus dem Graben hochfahrende und mit exotischem Schlagwerk verstärkte Staatskapelle unter Robbert van Steijn, so überzeugend sind die fabelhaften Protagonisten: Allen voran die exzellente, kurzfristig eingesprungene Olga Privalova als Phaedra und der wunderbar flexible Robert Sellier als Objekt ihrer Begierde Hippolyt. Aber auch Ulrich Burdack als Theseus und Minotauros und die beiden Göttinnen Aphrodite (Ines Lex) und der Counter Michael Taylor als Artemis stehen dem in nichts nach.
Man kann nur hoffen, dass das Publikum so neugierig und aufgeschlossen ist, wie zur Premiere. Vielleicht hilft es ja, dass zum ersten Mal die Theater in Halle, Chemnitz und Magdeburg bei der Vermarktung von zeitgenössischen Opern kooperieren. Bei Vorlage einer Eintrittskarte von Henzes „Phaedra“, Peter Eötvös „Paradise Reloaded (Lilith) in Chemnitz und in Magdeburg „Der Prozeß“ von Philip Glass kann man die jeweils anderen beiden Vorstellung zum halben Preis sehen. Fazit: Mit dieser mehrfach verschobenen und dann doch den widrigen budgetär-politischen Rahmenbedingungen abgetrotzten Produktion ist die Oper in Halle auf der Höhe der Zeit. Programmatisch, szenisch und musikalisch!