Solange Madrigal, Motette, Kantate, Oratorium und Opernarie ihre Gliederung durch den jeweils vertonten Text und die dafür gewählte kompositorische Ausgestaltung von Affekt, Semantik, Wortklang, Rhetorik und Deklamation bezogen, wurde nach der Form von Musik kaum gefragt. Das Formproblem stellte sich erst im Laufe des 18. Jahrhunderts, als in Abgrenzung zur wortgebundenen Vokalmusik die zur „absoluten Musik“ nobilitierte Instrumentalmusik aus sich heraus zu formen hatte. Fortan galt Form als eigenständige ästhetische Ausdrucksdimension von „Geist in geistfähigem Material“. Theoretiker wie Adolf Bernhard Marx und Eduard Hanslick erkannten an den Formen der klassischen Sinfonien, Klaviersonaten, Variationszyklen, Streichquartette und Instrumentalkonzerte von Haydn, Mozart und Beethoven eine Äußerung der Idee der Kunstwerke. So erklärte Hanslick 1854 in seiner entschiedenen Absage an die „verrottete“ Gefühlsästhetik: „Tönend bewegte Formen sind einzig und allein Inhalt und Gegenstand der Musik.“ Und noch Theodor W. Adorno äußerte 1965 beim Darmstädter Kongress „Form in der Neuen Musik“, Form und Inhalt bzw. Ausdruck seien „durcheinander vermittelt“, so dass sich der „Rang der Werke“ primär danach bestimme, „wie tief jene Vermittlung gelang“.
Mit dem Zerfall der an tonale Spannungsverläufe und prästabilierte Formmodelle gebundenen Gattungen musste die neue Musik des 20. Jahrhunderts aus sich selbst heraus zu Ausdruck, Verlauf und Zusammenhalt finden. Und die Hörer hatten fortan das jeweils Besondere eines Werks ohne allgemein verbindlichen Bezugsrahmen zu erkennen. Besondere Herausforderungen an die kompositorische Gestaltung und rezeptive Wahrnehmung von Form stellen dieses Jahr die uraufgeführten „Großformen“ bei den Donaueschinger Musiktagen vom 18. bis 20. Oktober.
Im Eröffnungskonzert präsentiert das SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg unter Leitung von drei Dirigenten die Neufassung von Walter Zimmermanns „Suave Mari Magno“ für sechs Orchestergruppen sowie Bernhard Langs aus Keimzellen von Bruckners „Linzer“ Symphonie generierte „Monadologie XIII“ für zwei Orchester im Vierteltonabstand. Jeweils ein eigenes komplettes Konzert füllen Raphaël Cendos menschheitsgeschichtliches „Registre des lumières“ für Chor, Ensemble und Live-Elektronik,
Enno Poppes 80-minütiger Zyklus „Speicher I-VI“ und Georges Aperghis „Situations“. Im Abschlusskonzert beschäftigen die Novitäten von Albert Posadas, Bruno Mantovani und Philippe Manoury gleich vier verschiedene Formationen: Bläsertrio des ensemble recherche, Ensemble Modern, SWR Vokalensemble und SWR Sinfonieorchester. Und während das Donaueschinger Festival durch die neue Klanginstallation „Debatte“ von Kirsten Reese und Georg Nussbaumers 15-stündige „Ringlandschaft mit Bierstrom – ein Wagner Areal“ in der Fürstlich Fürstenbergischen Brauerei seine Abrundung erfährt, wird an anderer Stelle am 25. Oktober in der Jahrhunderthalle Bochum neben Stockhausens „Gruppen“ für drei Orchester eine ebenso formsprengende wie formsetzende Raum-Klang-Musik von Günter Steinke für die dreifache Klangballung von Ensemble musikFabrik, Essener Philharmoniker und Bochumer Symphoniker uraufgeführt.
Weitere Uraufführungen
3.10.: Zeynep Gedizlioğlu, „Durak“ für Orchester, Beethovenfest Bonn
3.–6.10.: ein Dutzend neue Werke beim ORF Musikprotokoll im Steirischen Herbst Graz
4.10.: Georges Aperghis, Quatre Études, WDR Musik der Zeit, Kölner Philharmonie
17.10.: Oliver Schneller, Passagio, Schütz-Musikfest, Frauenkirche Dresden
18.10.: Johannes Schöllhorn, Orchesterwerk zum Jean Paul-Jahr, Hof/Saale; Georg Kröll, 17 neue Stücke aus „Tagebuch“, Tonhalle Düsseldorf
25.-31.10.: Volker David Kirchner, Vito Zuraj, Fredrik Zeller, Márton Illés und Kompositionsstudierende, neue Ensemblewerke, Festival „ZeitGenuss“ der Musikhochschule und Stadt Karlsruhe