Ist das Musikfest ION 2020 schon vorbei? Klar: seit Anfang Juli. Andererseits: Alle Konzerte des Internationalen Festivals für Geistliche Musik in Nürnberg sind noch in Form der zunächst live gestreamten Mitschnitte verfügbar. Was genau ist also abgeschlossen und was wirkt fort? Was macht es mit einem Festival, wenn es sein Publikum – bis auf ein Open-Air-Konzert – ausschließlich in Netzräumen erreicht? Und was macht es mit dem Berichterstatter, wenn er zweimal zum exklusiven Kreis vor Ort Zugelassener gehört und andere Male wieder nicht?
Ende Juni in der Nürnberger Frauenkirche: Anna-Maria Hefele erfüllt den Sakralraum mit ihrem Obertongesang, begleitet ihre Stimme zu mittelalterlichen, aber auch Pop-Liedern mit Schlüsselfidel und Harfe. Fast unwirklich fühlt es sich an, solch intensive Momente wieder unmittelbar zu erleben, aber auch eine gewisse Unsicherheit, ein Unbehagen mit der artifiziellen Situation zu spüren, das die Musikerin im anschließenden Gespräch durchaus deutlich artikuliert. Vor allem genießt man aber die langen Phasen, in denen die Musik wieder wie selbstverständlich ausschwingt, die Resonanzen sich im Kirchenschiff verzweigen, unmittelbare Reaktionen auslösen.
Bei den zweiten Protagonisten des Abends etwa, die hörbar inspiriert unter anderem mit der lichtdurchfluteten Interpretation eines geistreichen Telemann-Trios antworten. Am Ende werden sich Robin Peter Müller (Barockvioline), Lucile Boulanger (Viola da gamba) und Andreas Küppers (Cembalo) noch mit der Sängerin zusammentun, etwas vorhersehbar in einer „La Folia“-Improvisation, berührend in Adam Kriegers Abendlied.
Eine weitere, dem coronabedingt völlig neu zusammengestellten Programm sich verdankende Begegnung findet einige Tage später in St. Martha statt: Die Gambistin Hille Perl steht mit ihrem kleinen Ensemble dem Jazz-Quartett Masaa buchstäblich gegenüber. Wie dessen Sänger Rabih Lahoud, von Trompeter Marcus Rust zeitweise umspielt, arabische Verse intoniert, in Vokalisen kleidet und wie Gitarrist Reentko Dirks mit einem einzigen perkussiv angeschlagenen Akkord den Liedern plötzlich eine pulsierende, von Perkussionist Demian Kappenstein sofort aufgegriffene Wendung gibt, das ist im Augenblick des Dabeiseins ein Ereignis und setzt sich in der Erinnerung angenehm fest.
Das Nachhören und Nachbetrachten im Netz lässt einen dann vergleichsweise unberührt, und so begegnet man auch auch den weiteren Videos, diesmal von Konzerten, bei denen man nicht anwesend war, mit gleichsam umgekehrter Skepsis: Haben sich die Stimmen des Ensembles Continuum in den perkussiv etwas aufdringlich betupften Sätzen aus Monteverdis Marienvesper im Raum besser gemischt? Wirkte dort die Interpolation mit David Langs elegant am Sakralkitsch entlangschrammendem „Just (After Song Of Songs)“ weniger geschmäcklerisch?
Andere Video-Momente faszinieren dann aber auch: Wenn Philipp Lamprecht am Eröffnungsabend zum Beispiel Georges Aperghis’ „Le corps à corps“ zunächst auswendig in die Kamera, also für’s Publikum an den Endgeräten „performt“, oder wenn der erstaunliche Organist Martin Sturm über die via Netz eingesandten Themenvorschläge improvisiert. Die Vogel- und Seitperspektiven ergeben hier einen echten optischen Mehrwert, die Hand- und Fußarbeit des Organisten, die Entstehung von Musik aus dem Moment heraus teilt sich intensiv mit.
Solche Video-Elemente, so Moritz Puschke im nachbetrachtenden Gespräch mit der nmz Anfang August, sollen ebenso wie die Moderationen bei der 70. Ausgabe des Musikfests ION 2021 beibehalten und weitergeführt werden. Der künstlerische Leiter hat die intensive Auseinandersetzung mit der kurzfristig neu zu Programmen geformten Musik, mit den sich auf das offene Format einlassenden Künstlern und nicht zuletzt mit dem via Internet intensiv über musikalische Inhalte kommunizierenden Publikum hörbar genossen: „Fragezeichen, Lücken und Zweifel zu inszenieren – das ist uns gelungen“, glaubt er und kann sich ein „normales“ Festivalprogramm gar nicht mehr so recht vorstellen, auch wenn dieses für den Jubiläumsjahrgang eigentlich schon festgezurrt ist. Hier gilt es also, das Paket ein Stück weit wieder aufzuschnüren, mit den gebuchten Künstlern wiederum in einen Dialog zu treten und zu „schauen, was zeitgemäß ist“, so Puschke.
„Nah bei dir“: Den guten Zugriffszahlen (ca. 160.000) und hohen durchschnittlichen Verweildauern (über 40 Minuten) am Ende der Festivalwoche nach zu urteilen, ist es der ION jedenfalls gelungen, vielen Menschen, gemäß dem hintersinnigen Motto nahe zu kommen. Wenn von diesem kurzfristig „modular und diskursiv“ angelegten Jahrgang langfristige Impulse für die ION und darüber hinaus ausgehen, um so besser. Die Festivalszene wird sie in den kommenden Monaten und Jahren gut brauchen können.
- Die Konzertmitschnitte, die in Kooperation mit dem BR und nmzMedia entstanden, sind ebenso wie eine von nmz-Herausgeberin Barbara Haack moderierte Diskussionsrunde zur Zukunft der Kirchen- und der Chormusik weiterhin online verfügbar unter: https://musikfest-ion.de