Nicht „Saison-Ausklang“, sondern „Oper Finale“ nennt sich traditionsgemäß die letzte programmatische Etappe der Spielzeit an der Oper Frankfurt. Neben Alban Bergs „Wozzeck“ und einem Symposium zum Musiktheater der Zweiten Wiener Schule im Großen Haus am Willy-Brandt-Platz bildet eine Uraufführung den dritten Schwerpunkt: Der Komponist Michael Langemann (Jg. 1983) hat eine Operette „Anna Toll oder Die Liebe der Treue“ geschrieben. Im Bockenheimer Depot wird sie gekoppelt mit einer Bühnenfassung von Arnold Schönbergs „Pierrot Lunaire“.
Was verbindet „Anna Toll“ mit Schönbergs Zyklus für Sprechstimme und fünf Instrumentalisten aus dem Jahr 1912? Da ist vor allem der literarische Rückgriff auf das Wien des Fin de Siècle. Michael Langemanns selbstverfasstes Libretto stützt sich auf den 1893 veröffentlichen Einakter-Zyklus „Anatol“ von Arthur Schnitzler und auf die 1908 publizierten Prosaskizzen „Märchen des Lebens“ von Peter-Altenberg. Zumindest beim Frankfurter Regieteam gibt es noch einen weiteren Rückbezug – den auf Schnitzlers Drama „Reigen“: Bernhard Niechotz‘ Bühnenbild zeigt eine treppenartig gestufte Drehbühne, auf der ein Bett neben dem anderen steht. Und anstelle der selbstverliebten Melancholie, in der Schnitzlers Titelheld Anatol sein Liebesleben beschreibt, geht Langemanns Anna Toll als eine von vielen recht frohgemut zur Sache. Atmosphärisch und in der Charakteristik der Figuren liegt Mozarts „Cosi fan tutte“ in der Luft.
In sieben Szenen und zwei Intermezzi entfalten Langemann und sein Regisseur Hans Walter Richter bildkräftig das Karussell der Gefühlsverwirrungen und Seitensprünge, der Eifersüchteleien und Täuschungsmanöver zwischen Anna (Elisabeth Reiter), ihren beiden Freundinnen Maxi (Nora Friedrichs) und Ilona (Nina Tarandek) und den Männer Carlo (Ludwig Mittelhammer), Gabriel (Simon Bode) und Baron Diebl (Magnús Baldvinsson); dabei gelingen sängerisch und darstellerisch durchweg markante Rollenprofile. Eine innere Distanz zum Geschehen, in das er selbst verwickelt ist, zeigt einzig der Siebente im Bunde, eine Sprechrolle: Arthur, benannt nach dem Dichter Schnitzler, verkörpert vom Schauspieler Dominic Betz, erlebt immer wieder signifikante Momente der Ernüchterung.
Langemanns Partitur ist voller gebrochener Reminiszenzen an gattungsspezifische Tanztypen wie Walzer, Csárdás oder Foxtrott, aber auch an Opernmusik von Mozart bis Strauss und Puccini. Wie Anverwandlung, Zitat und Montage unmerklich ineinander fließen und der Szene einen ironischen Subtext verleihen, ist ein Amüsement für Kenner und macht auch dem von Nikolai Petersen kraftvoll geführten Opern- und Museumsorchester hörbar Vergnügen. Manchmal allerdings überdeckt der Orchesterklang an ihren tiefen oder leisen Stellen die Singstimmen und nur die Übertitelung rettet das Textverständnis. Wie stark die Musik dem 19. und 20. Jahrhundert verhaftet ist, merkt man spätestens an einer kurzen Sprechpassage, die Dominic Betz nach Rapper-Art deklamiert.
Und so stellt sich die Frage nach Zeitbezug und Gattung. Aus der Selbstentlarvung eines alternden Macho bei Schnitzlers Anatol wird in „Anna Toll“ ein gegenwärtiges und gleichberechtigtes gesellschaftliches Sittenbild. Die Musik aber bezieht ihren stärksten Antrieb vom schönen Gestern. Der Komponist scheint sich dessen bewusst, wenn er im Programmheft schreibt, „Anna Toll“ sei „eine Oper, die sich als Operette verkleidet“. Man könnte auch umgekehrt sagen: „eine Operette, die sich nach der Oper sehnt“. Mit anderen Worten: Mehr Nostalgie als Satire, mehr Léhar als Offenbach. Nicht wirklich zukunftsträchtig, aber nicht ohne Charme.
Deutlich ist dementsprechend der stilistische Kontrast zu „Pierrot Lunaire“, der den Abend einleitet und für den Dorothea Kirschbaum als Regisseurin verantwortlich zeichnet. Indem sie Bernhard Niechotz' gestufte Bühne für ein Caféhaus- oder Bar-Szenario nutzt, schlägt sie geschickt die Brücke zu den Caféhaus-Literaten Schnitzler und Altenberg. Und schon vor Beginn des „Pierrot“ singt dort, während sich die Zuschauerreihen allmählich füllen, die Solistin alte US-amerikanische Schlager. Begleitet wird die renommierte amerikanische Sopranistin Laura Aikin als Diseuse von der „Pierrot“-Kammerbesetzung des Opern- und Museumsorchesters; dabei hat die Besetzung mit Bassklarinette statt Saxofon ihren besonderen musikalischen Reiz. Es ist der alte Standard „Blue Moon“, der sinnigerweise zum mondestrunkenen Pierrot überleitet.
Die szenische Einrichtung des „Pierrot“ ausgewogen zu beurteilen, fällt schwer, denn die Tücken der Drehbühne sorgten in diesem ersten Teil des Abends für einige ungeplante Situationen. Dennoch erscheint die Grundidee, das Szenario beizubehalten, nicht wirklich tragfähig. Im silberfarbenen Frack bleibt Aikin, im Vortrag technisch souverän, eine Diva, während die Regie Caféhausgäste und -personal über die Bühne scheucht. Einzelne Passagen aus den 21 Gedichten des „Pierrot“ geben ab und an das Stichwort für einzelne Aktionen. Der Tänzer David Laera stellt als „junger Mann“ einen angehenden Dichter dar, den die Solistin nach Gutdünken hofiert oder schikaniert. Was als expressionistische oder surrealistische Verstörung aus der Musik und dem Sprechgesang der Pierrot-Figur erwachsen müsste, wirkt hier von außen aufgesetzt oder äußerlich ausagiert. Die Inszenierung lenkt den Betrachter nicht auf die Musik, sondern von ihr ab. „Ich will dem Ohr seine Stellung fürs Leben zurückerobern“ notierte die Vortragskünstlerin Albertine Zehme, die im Oktober 1912 den „Pierrot Lunaire“ urauführte, im März 1911 zu einem ihrer Rezitationsabende. Man findet diesen Satz an einer kleinen, aber instruktiven Ausstellungswand im Bockenheimer Depot. 100 Jahre später erscheint er erst recht aktuell.