Die alte Kaiserstadt Speyer in der Vorderpfalz gilt nicht gerade als Hochburg der Neuen Musik. Dennoch gibt es mit den „Kontrapunkten Speyer“ nun schon im siebten Jahr eine Konzertreihe für zeitgenössische Musik. Veranstalter ist das Kulturbüro der Stadt, Initiator und künstlerischer Leiter der Speyerer Pianist Stephan Rahn, Konzertort der His-torische Ratssaal.
Speyer ist Sitz eines katholischen Bistums, Sitz auch der Protestantischen Landeskirche der Pfalz – und dank des historischen Stadtbilds ein Ort, der die großen Zeiten des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation erahnen lässt. Hier zählt Tradition. Dass hier ein typischer Musikliebhaber „Neue Musik nicht mag“ – wie Rahn vor dem Abschlusskonzert in einem selbst verfassten sokratischen Dialog formuliert – dürfte die Regel sein.
Anfangs, verriet ein langjähriger Zuhörer dem Rezensenten, hätten Konzerte vor 20 mutigen Zuhörern stattgefunden. Inzwischen hat Rahn sein Stammpublikum, und immer wieder kommt ein Neugieriger hinzu. Gut 100 Plätze sind besetzt beim dritten der vier Konzerte. Das renommierte Ensemble Modern präsentiert sein Programm für Klavier und Bläser in bemerkenswerter Reihenfolge. Mit Heinz Holligers Quintett für Klavier und Bläser von 1989 und Michael Quells 2010/2011 entstandenem Trio-Satz „Dark Matter“ für Oboe, Klarinette und Fagott steht jeweils das am wenigsten traditionell empfundene Werk am Anfang der beiden Programmteile – wohl in der berechtigten Hoffnung, hier noch auf besonders offene, möglichst wenig vorgeprägte Ohren zu treffen.
Vor der Pause darf sich ein potenziell verstörter Hörer durch Charles Koechlins spätromantisches Opus 20 „Au Loin“ für Englischhorn und Klavier von 1900 versöhnen lassen, bevor mit George Antheils Concertino für Flöte, Fagott und Klavier der wilde Drive der Roaring Twenties zum Zug kommt. In der zweiten Programmhälfte folgt Edgar Varèses „Density 21.5“ für Flöte solo (1946). Francis Poulencs Sextett op. 100, von Rahn als „Hommage à Paris“ eingeführt, bildet einen mitreißenden Abschluss. Über die düsteren Zwischentöne und ihren möglichen, ja wahrscheinlichen zeitgeschichtlichen Hintergrund im Jahr 1939 sagt der künstlerische Leiter nichts.
Insgesamt trifft Stephan Rahn in seinen Einführungen nicht nur den richtigen Ton für ein Publikum von Nicht-Spezialisten, sondern er gibt auch wertvolle Hinweise zum Verständnis der einzelnen Werke und der Musik des 20. und 21. Jahrhunderts allgemein. Spürbar wichtig ist ihm ein Zitat von Helmut Lachenmann: „Kunst ist vom Geist beherrschte Magie – Kunst als erfahrene Möglichkeit von Freiheit. Plötzlich spüren Sie beim Hören etwas fast naturhaft wie ein Blitz: Und Sie hören als ein Veränderter, sind auf ganz neue Weise dabei.“
Diese Sätze zeigen in der Tat eine wichtige Perspektive. Denn je mehr wir in der Alltagswelt aufgefordert werden, in den simplen Kategorien „gefällt mir“ und „gefällt mir nicht“ zu denken, und je mehr man uns in scheinbar fürsorglicher Bevormundung mit dem versorgt, was wir ohnehin schon kennen und mögen, desto wichtiger wird es, dass wir wieder auf Entdeckungsreise gehen. Angenehm und hilfreich wäre es im einen oder anderen Fall, die einführenden Worte schwarz auf weiß in die Hand zu bekommen. Dennoch erscheint die direkte Ansprache des Publikums als Schlüssel zum Erfolg.
Geschickt nimmt Rahn den Hörern die Angst vor dem Verstehenmüssen, wenn er sagt: „Zum Genießen gehört auch das genüssliche Nichtmögen eines Stückes.“ Abgerundet wird die freundliche Atmosphäre durch die Pauseneinladung zu einem Pfälzer Riesling mit Laugengebäck. Das lockert die Zunge, und so wundert es nicht, wenn im zweiten Teil zwischen den einzelnen Titeln ein Gemurmel im Publikum entsteht, das sich dem Bedürfnis nach Austausch über das Gehörte verdankt. Vielleicht ließe sich das Konzertformat in dieser Richtung weiter entwickeln.
Für das Abschlusskonzert setzt sich Stephan Rahn vor gut 80 Hörern selbst an den Flügel und spielt mit seinen beiden Kolleginnen vom Trio Sài Gòn, Anna Theresa Steckel (Violine) und Carin Levine (Flöte), Musik, die sich in verschiedener, manchmal sehr subtiler Weise auf ältere Musik bezieht. Auch hier stehen am Anfang der Programmblöcke die ungewohntesten Klänge – diesmal sogar zwei Uraufführungen. Während Violeta Dinescus „Ichthys“ etwas rätselhaft bleibt und die zitierten Selbstaussagen der Komponistin – wie so oft – nicht viel weiterhelfen, erschließen sich die fragmentierten und zersprengten romantischen Gesten in Peter Heerens „Phantasia“ beim Hören leichter. Und so darf mit Franco Donatonis „Ciglio II“ von 1993 gerne ein weiteres avanciertes Werk folgen.
Impressionistische Nachklänge hört man dagegen in Henri Dutilleux’ Sonate für Violine und Klavier, während in Bohuslav Martinus Sonate für Flöte, Violine und Klavier (1959) und Nino Rotas Trio (1958) die neobarocke und neoklassische Tradition spürbar wird. Doch wie „modern“ oder „traditionell“ auch immer – gängiges Repertoire ist keines von allen Werken in dieser Reihe, und so lohnt das für Speyer konzipierte Programm auch die Anreise von außerhalb.