Die Semperoper in Dresden bleibt nach dem überstandenen Wagner-Jahr mit ihrer „Elektra“ Premiere gleich im Jubiläumsmodus. Denn an der Elbe ist mit dem aktuellen, vor 150 Jahren geborenen Komponisten Richard Strauss gleich der zweite Hausgott an der Reihe. Und da mit Christian Thielemann seit kurzem ein Dirigent an der Spitze der Sächsischen Staatskapelle, also des nach wie vor besten Strauss-Orchesters der Welt, steht und dem Haus, das im vorigen Jahrhundert auf die Uraufführungen von Strauss-Opern geradezu abonniert war, obendrein eine absolute Top-Besetzung gelungen ist, beginnt dieses Jubeljahr musikalisch und sängerisch auf dem höchsten, live vorstellbaren Niveau!
Szenisch ist das nicht ganz so. Wobei es auch eine ambitioniertere Regieanstrengung, als die der Intendantin des Schauspielhauses in Zürich, Barbara Frey, schwer gehabt hätte. Denn sie muss sich vor Ort mit der legendären, eigenwillig psychologierenden Ruth Berghaus-Inszenierung messen, von der man sich hier erst vor 5 Jahren (nach über zwanzig Jahren) schweren Herzens trennte. Obendrein gehört nebenan in Leipzig Peter Konwitschnys Elektra-Thriller zu den wenigen Arbeiten dieses Regisseurs, die der Intendant Ulf Schirmer nicht entsorgt, sondern vor kurzem selbst am Pult des Gewandhausorchesters auf beeindruckendem Niveau wiederbelebt hat.
In Dresden hat Muriel Gerstner die Bühne, warum auch immer, einem unfertigen Festsaal im Berliner Flughafen Tempelhof nachempfunden. Wobei der eingemeißelte Spruch „Justitia regnorum fundamentum“ (Gerechtigkeit ist die Grundlage der Reiche) ebenso Behauptung bleibt wie die unverbindliche „Mad Men“ Eleganz der Kostüme von Bettina Walter. Szenisch setzt sich das, was da an Trauma-Spurensuche gemeint ist, nicht wirklich bezwingend um. Dass Frey sich auch bei der Personenführung zurückhält, hätte den Abend zum Scheitern bringen können, wenn nicht so großartige Sängerdarsteller wie Evelyn Herlitzius als Elektra und Waltraud Meier als Klytämnestra ihr famoses Zusammenspiel fortgesetzt hätten, das sie im letzten Sommer in Patrice Chéreaus letzter Inszenierung in Aix-en-Provence in diesen Rollen erprobt haben.
Und wie sie das mit ihrem vokalen Vermögen und ihrer enormen darstellerischen Präsenz machen, fügt es sich so mit Thielemanns Strauss-Fest im Graben, dass der Abend zu einer Sternstunde und zu einem Triumph der Sänger, des Orchesters, des Komponisten und seines kongenialen (und besten) Librettisten Hugo von Hofmannsthal wird. Man versteht nämlich obendrein auch noch fast jedes Wort! So kommt man in Dresden dem Werk selbst und seiner suggestiven Wucht, jenseits der Szene, auf eine Weise nahe, die so sicherlich gar nicht beabsichtigt war.
Thielemann vermag es, die Musik von innen lodern zu lassen, bleibt in der Brutalität der tödlichen Rache-Obsession, der Fixierung auf den ermordeten Vater Agamamnon immer noch so sensibel, dass die Sänger nie überdeckt werden. Selbst bei der heiklen Auftaktszene mit den Mägden. Thielemann ist Strauss-Kenner genug, um seine „Elektra“ nicht nur wie eine auf die Spitze getriebene „Salome“ aufzufassen, sondern auch mit dem Wissen um die Wendung des Komponisten hin zum „Rosenkavalier“. Archaische Wucht ohne übertriebenes Dröhnen, dann wieder verführerisch aufflackernde melodische Motive und betörend leise Töne. Dazu auf Händen getragene Sänger und alles als ein farbenprächtiger, opulenter Wurf! Dafür muss man dann doch nach Dresden fahren.
Grandios und in der Rolle ihres Lebens angekommen: Evelyn Herlitzius. Da ist kein Ton schrill, da flackert nichts mehr – mit ihrem Timbre, ihrer Durchschlagskraft und darstellerischen Intensität ist sie momentan die Elektra schlechthin.
Ebenso erstaunlich ist, was Waltraud Meier aus der Klytämnestra macht. So konsequent wirklich gesungen und gestaltet kommt das fast einem Rehabilitierungsversuch der Mörderin des Agamemnon gleich. Denn bei ihr schwingt auch mit, was sie als Mutter durchmachte, als ihr Mann einst die Tochter Iphigenie opferte, um mit vollen Segeln in den Krieg nach Troja ziehen zu können. Die sich gegen die Racheobsession stemmende und nach einem normalen „Weiberleben“ sehnende Chrysothemis von Anne Schwanewilms steht dazu in einem wunderbar jugendlich hell klingenden Kontrast. Den vokalen Luxus schließlich komplettiert René Pape als sich ergreifend verströmender (im doppelten Wortsinn) standfester Orest. Als Aegisth hält auch Frank von Aken wacker mit.
Für Dresdner Verhältnisse war das Publikum an diesem Premierenabend regelrecht aus dem Häuschen. Zwanzig Minuten stehende Ovationen, das hat man hier höchst selten. Und selten mit mehr Grund als diesmal.