„Böse Menschen haben keine Lieder“ gilt nur bedingt. Denn im Nachklang der „Roaring Twenties“ und der großen Depression nach der Weltwirtschaftskrise blühte speziell auch in der „Windy City“ Chicago um 1930 eine breit gefächerte Musikkultur, die vom „schwarzen“ Jazz über „weißen“ Big-Band-Sound, die wild wuchernden Formen des „Lindy Hop“ hin zu Gershwins „Summertime“-Arie oder Schostakowitschs „Jazz-Suite“ und Samuel Barbers „Adagio for Strings“ letztlich „alles“ umfasste … eben auch Prohibition, Prostitution, Bugsy „Malone“ Moran, Al Capone und Konsorten …
All das hat Karl Alfred Schreiner, den Ballettchef des Münchner Gärtnerplatztheaters, beschäftigt und gereizt: nicht in Konkurrenz zu treten zu den großen Mafia-Epen des Films, den fabelhaften Revue-Filmen der Schwarz-Weiß-Ära oder dem Musical samt Film „Chicago“ - vielmehr die musikalische Bandbreite zu einem Seelen- und Sittenbild aus Körpersprache zu formen.
In einem kurzen Prolog zeigt Schreiner eine wilde nächtliche Banden-Schießerei, in der eine junge Mutter zu Tode kommt, ihr kleiner Sohn Luigi verloren im dunklen Raum steht – und nach einem als Zeitraffer dienenden Lichtwechsel dann als junger Mann in einer Chicagoer Back-Street-Kulisse als Kleinkrimineller seine ersten „Geh-Versuche“ macht. Mit Vince Giordanos „Down in the Jungle“ beginnt auch eine musikalische Zeitreise, für die Arrangeur und Dirigent Andreas Kowalewitz allen Jubel am Ende verdient. Von „When I take my sugar to Tea“ über Paul Abrahams „Bin nur ein Jonny“ über Nick LaRoccas „Tiger Rag“ wechselt er mit den speziell zusammengestellten Instrumentalisten vom Klang einer Unterhaltungs-Combo zur wilden Dixieland-Band bis zum intimen Streicher-Arrangement für Gershwin. Schreiner choreografiert das „Easy living“ der als „Flappers“ auftretenden und wie Verbrauchsware benutzten jungen Frauen, bis Luigi in einer Bar Maria trifft: „Summertime“-Liebe auf den ersten Blick.
Ein Cello übernimmt die Vokalise in Villa Lobos’ „Bachianas Brasileiras Nr. 5“, wenn Maria ihren Vater trifft. Zu Duke Ellingtons „Caravan“ wirbeln scharlach-pinke Cabaret-Girls über die Bühne, ehe zu George Antheils „2.Sonate für Violine und Klavier“ Luigi in rituellen Bewegungen im Clan eines „Don“ seine Initiation erlebt. Dazu kontrastiert mit fetzigen Big-Band-Klängen ein furios choreografiertes „Lindy Hop“-Ensemble, das nicht nur zum Mitwippen eigener Füße anregt, sondern auch die ganze Lebensfreude des „New Deal“-Aufschwungs vor dem nächsten Weltkrieg perfekt beschwört – daran hat das mitarbeitende Vintage-Choreografen-Duo Kaufer-Koch erkennbaren Anteil.
Zum kalten Gegenpol wird Luigis Auftragsmord an einem Obsthändler – Marias Vater –, der zu einer Verfolgungsjagd mit der Polizei führt – dem szenischen Coup der Aufführung: wurde bis dahin schon Rifail Ajdarpasics Einheitsbühne mit Jakob Bogenspergers Lichtwechseln und wenigen Assessoires gekonnt verwandelt, so suggeriert nun eine Videofilm-Projektion des Duos Kurig-Mahnecke eine wilde Autojagd durch nächtlich vorbeifliegende Straßen, Tänzer bewegen zwei Auto-Heck-Attrappen im Schlingerkurs, tanzende Gegenlichter weichen aus, Gangster- wie Polizei-Arme mit Waffen werden kurz sichtbar, eine ironisch überzeichnete, sexy Polizei-Sprecherin produziert Pressekonferenz-Bla-Bla – tolle Tanz-Theater-Imagination zu Michael Nymans „Time Lapse“.
Nach der Pause wechselt Choreograf Schreiner vom Handlungsballett weitgehend zum Tanztheater: bleiben Marias reuige Scham-Schande-Verrenkungen der anmutigen Ariella Casu über die Liebesnacht mit Luigi vor einem Priester noch stumm zum 1. Satz von Bela Bartoks Divertimento für Streicher, so produziert der machohaft fesche Luigi von Giovanni Insaudo zu Schostakowitschs Jazz-Suite Nr. 1 eine textlich unverständliche Italo-Suada samt bodennaher Verrenkungsreue.
Die zu Hindemiths Trauermusik für Viola und Orchester angedeutete Beerdigung von Marias Vater, die versuchte Versöhnung zu Barbers Adagio for Streicher, ein Pas-de-Trios von Luigi-Maria-Vater, ein negroider Tod, ein kopfloser Geist des Vaters – ob sich das nur in Luigis verzweifelter Imagination abspielt, dazu bleiben Raum, Licht Personenführung und Choreografie zu unentschieden. All das wurde von einem typengenauen Ensemble in Alfred Mayerhofers zeittypisch genauen Kostümen hoch engagiert getanzt, doch am Ende überwog die Freude am brillant vielfältigen Arrangement von Andreas Kowalewitz: mal solistisches Alt-, mal Sopran-Saxophon, mal Solo-Cello, mal Swing-Sound, dann kammermusikalische Raffinesse und am Ende klassisch satten Streicherklang vereinendes Kaleidoskop der musikalischen Welt der „Dreißiger Jahre“.