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Adriano Celentano Gebäckorchester, Silly Love Songs, Konzerte, 10.5., 20h, © ACGO
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„Gefühle haben Schweigepflicht“ (Andrea Berg) – „Doofe Musik – Lieder zum Träumen, Betäuben und Vergessen“ im Haus der Kulturen der Welt Berlin

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Wenn die Menschheit als die die Erde in ihrer Substanz verändernde Kraft erkannt ist – weswegen das aktuelle Zeitalter Anthropozän heißt – welche musikalischen Strategien der Hauptakteure sind in diesem Prozess auszumachen? Dazu war nun die „Doofe Musik“ die dritte musikalische Versuchsreihe im Haus der Kulturen der Welt (HDK) – nach dem Festival „Unmenschliche Musik – Kompositionen von Tieren, Maschinen und Zufällen“ und dem Festival „Böse Musik“; alles im Rahmen des umfassenden Anthropozän-Projekts des HDK, in dem es um die Erprobung transdisziplinären Wissens- und Bildungskultur geht.

„Doof“ ist Musik dann, wenn sie der Betäubung ihrer Rezipienten dient (oder dienen soll). Unter dieser Klammer haben die Festivalkuratoren Detlef Diederichsen und Holger Schulze programmiert, was man als musikalische Fluchten aus der Wirklichkeit kennt: Schlager, Polka, Fahrstuhlmusik, Liebeslieder etc., es gab Klanginstallationen, eine kleine Filmreihe mit der „Roy Black Story“, Taanilas „About Muzak“ und „Decoder“, drei „Doofe Lounges“ zu Polka, Arabesk und Schlager und verschiedene Wortformate; insgesamt 22 Positionen umfasst der Festivalflyer.

Eskapismus und nieder-komplexe Musik

Eskapismus war der zentrale Begriff des Festivals. Andererseits ging es auch um die Potentiale, die in niedrig-komplexer Musik stecken, gewissermaßen also um die positive Umdeutung der oft nervigen Berieselungen; ist „doofe Musik“ also doch nicht uneingeschränkt doof?

In diesem Sinn dürfte die „Chemical For Music Toilet“ von Christian Vogel zu verstehen sein, die jeden Besucher am Haupteingang des HDK empfing, noch bevor er das Gebäude betrat. Erik Satie würde das beschallte Dixi-Klo mit Sicherheit gefallen.

Die „Pocket Symphonies“ im Eröffnungkonzert setzten diesen Strang fort: zehn, nur mehrere Minuten dauernde Kompositionen nach dem Audio-Logo der Deutschen Telekom. Mit Klavier (mit und ohne Elektronik), mit Streichquartett, Blasinstrumenten, Gitarre, Elektronik, Synthesizer, Gesang rückte man dem Düdeldü-di-dü, einem Meisterstück des akustischen Marketings, zu Leibe. Seine Parameter waren mit viel Witz und Ironie verarbeitet, mal war das Hauptmotiv aus Beethovens Fünfter abgeleitet, mal ein fugiertes Thema, als rhythmische Studie oder in Form von Klangerforschungen.

Mit zunehmender Konzertdauer ermüdete der motivisch rote Faden dann doch etwas; keine der Kompositionen verzichtete auf ein mehr oder weniger deutlich wiedergegebenes Zitat des Ausgangsmaterials.

Dann ging’s zum Gesellschaftstanz im Foyer, unter Beteiligung des Publikums, angeleitet von Rica Blunck, musikalisch begleitet vom Chor des Hauses. Hokey Hokey Pokey mag auf Kindergeburtstagen richtig sein. Aber warum befällt mich beim Anblick von Ententanz und Polonaise immer die Ahnung, einer Okkupation beizuwohnen? Was soll daran exemplarisch „doof“ sein, dass man fröhlich und unbeschwert in Formation „Raum“ besetzt – und sei es nur der im Foyer im Haus der Kulturen der Welt, 100 Jahre nach Ausbruch des I. Weltkrieges und ausgerechnet am 8. Mai! Eigentlich hätte der „Gesellschaftstanz“ auch ein Gesprächs-Thema, ein wichtiges zudem, sein müssen.

Ob, wie im Fall des Freitagabendkonzerts „Miracles: Flüchtige Momente der schönen Musik“ das Genre „Smooth Jazz“ nach dem Eskapismusmechanismus „doofer Musik“ funktioniert, muss bezweifelt werden. Mir scheint, dass Jazz, gleich welch stilistischer Provenienz für die Fragestellung des Festivals unergiebig war. Die Zerlegung von „My Funny Valentine“ hat das Stück im Kern nicht angetastet. Entstanden war lediglich eine weitere Variante, so, wie es eben zum Hauptgeschäft im Metier des Jazz gehört, interessante Varianten zu schaffen, was die aus dem Umfeld des an experimenteller Musik orientiertem „Ausland e.V.“ stammenden Musikerinnen und Musiker auch ausführlich und konsequent demonstrierten: in der Dekonstruktion des oben genannten Jazzstandards, mit Soundexperimenten auf üblichen (Instrumenten) und eher unüblichen Klangerzeugern aus der Freien improvisierten Musik, mittels Elektronik, mit dem stilistischen Mix der Band „The Understated Brown“ aus easy lisening music und sehr freien Elementen sowie einer Klanginstallation im Fahrstuhl („Tracking back the backing track“).

Schwache Wortformate

Schwachpunkt des Festivals waren seine Wortformate und damit der theoretische Überbau des Unternehmens. Eine Ausnahme davon war das ausgesprochen informative Künstlergesprächs mit Wolfgang Voigt. Er hatte Raum, konzentriert und eloquent über seine Klanginstallation „Rückverzauberung 9 – Musik für Kulturinstitutionen“ in Foyer und Untergeschoß des HDK zu sprechen und diese ambiente Musik historisch und aus seinem einschlägigen Œuvre heraus einzuordnen. Ebenso holte er zusammen mit den beiden Festivalkuratoren in der Rückschau auf „Wolfgang Voigt spielt Polka Trax“, mit der die „Doofe Lounge I“ bestritten worden war, das Phänomen der Polka-Renaissance kenntnisreich und fassbar in eine nähere Betrachtung. „Entdeutung und Rückbesinnung“ umreißen ziemlich genau den kreativen Ansatz des Künstlers.

An der Verbindung von künstlerischer Darbietung und theoretischen Aspekten, die bei Voigt so überzeugend gelang, krankten hingegen die beiden Mikrosymposien. Zum einen, bestritt, bis auf Justus Köhncke, keiner der musikalischen Akteure diese Podien, die zudem ihre eigenen Themen mit entsprechenden Klangbeispielen hatten. „Die Furcht vor der Flucht“ und „Unsere doofe Musikkultur“ eröffneten zwar Füllhörner der einschlägigen Stichworte – Funktionsmusik, Wegschlafmusik, geförderte „Doofheit“, Enthemmung als Marketingstrategie usw. Spätestens, als man am Podium mit der Frage „was nehmen wir denn jetzt noch, Schweinerock oder Wolfgang Petry“ die abgeflaute Debatte wieder in Gang zu setzen suchte, war klar, dass man mit einem eng geführten Theorie-Praxis-Ansatz der „Doofen Musik“ methodisch näher gekommen wäre.

Unerhellendes Material

Und da fragt man sich schon: warum macht man sich die Mühe mit Installationen (noch nicht genannt: „Der Nippel Mobilee“ von Schneider TM), wenn man sie ebenso wenig tiefer gehend erörtert, wie auch die sehr erhellenden Filme. Ärgerlich war der Vortrag „Was Beethovens 3. Sinfonie so doof macht“ von Ebba Durstewitz. Auf Bratscherwitze-Niveau sollte man Distinktionsmechanismen und –rituale in der Klassikrezeption nicht abkanzeln, Skurilitäten dieses Metiers hin oder her.

Derart ohne intellektuelle Imperative ausgestattet, gewissermaßen „allein“ gelassen mit musikalischen Genres, die nicht die seinen sind, konnte der Autor dieser Zeilen nur feststellen: manche Performer können’s, andere weniger. Der Samstagabend bot reichlich Anschauungsmaterial, was die Unterhaltungskünstler von „Silly love songs“ im Auditoriums des HDK zu bieten hatten. Das geriet strohig bei Lifafa, der reichlich uninspiriert an seinen Knöpfen und Reglern fummelte, umso strahlender bei Justus Köhncke, ein souveräner Karaocker, der zudem lässig den Chor der Kulturen der Welt handled, oder beim stoisch-sentimentalen Friedrich Lichtenstein (im Wagner-, besser: Liberace-Mantel), bevor das Adriano Celentano Gebäckorchester das Auditorium mit Musik seines Namensgebers und anderem italienischem Kitsch in eine krachende Tanzparty verwandelt (wo man eben tanzen kann).

Aber das Beste bot das Festival zum Abschluss am Sonntagabend auf. „Kofelgschroa“ heißt das Quartett mit Akkordeon, Gitarre, Flügel- und Tenorhorn, Tuba und Gesang: authentische und zugleich anrührende Volksmusik zum Niederknien.

Man darf gespannt sein, wie die Bandbreite an „Doofer Musik“ und die unzähligen angerissenen Themen später aufgegriffen und in das Anthropozän-Projekt eingewoben werden.

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