Im Unterschied zur Feldmusik meinte „Kammermusik“ zunächst einfach Musik für die fürstliche Kammer, und zwar unabhängig von der Größe ihrer Besetzung. Wie zu feudalen Zeiten die Hofbuchhaltung Etats für die Kammermusiker bereithielt, wird noch heute verbeamteten Solisten an Stadt- und Staatstheatern der Titel „Kammersänger“ verliehen.
Doch weil die unterschiedliche Besetzung der Feld- und Kammermusik – dort Trompeten, Pfeifen, Trommeln, hier dagegen vor allem Streicher – auch mit unterschiedlichen ästhetischen Aufgaben und Ansprüchen verbunden war, veränderten sich bald die Verhältnisse. Bereits Mitte des 18. Jahrhunderts bezeichnete Mattheson den „Kammer-Styl“ im Vergleich zur Kirchen- und Theatermusik als „kunstvoller“ und erkannte Quantz darin „mehr Lebhaftigkeit und Freyheit der Gedanken“.
Das Aufkommen öffentlicher Konzertveranstaltungen um 1800 beschränkte Kammermusik schließlich – im Unterschied zu groß besetzter Chor- und Orchestermusik – auf solistische Besetzungen von zumeist besonders artifizieller Faktur für den kleineren Kreis von Kennern und Liebhabern: Bläserquintette, Duos, Violin- und Cellosonaten, Streich- und Klaviertrios und natürlich Streichquartette.
Was davon hat heute noch bestand, nachdem die bürgerliche Idee „absoluter“ Instrumentalmusik infrage gestellt und die gattungstypischen Satz- und Formmodelle längst gesprengt wurden? Geblieben ist vielfach der Anspruch auf Originalität, Innovation, Konzentration und Experimentierfreude. Hochgehalten wird er jährlich aufs Neue von den „Wittener Tagen für neue Kammermusik“. Vom 26. bis 28. April präsentiert das internationale Festival zwanzig Uraufführungen mit jeweils anderen Aspekten von Kammermusik und deren Sprengung. Quatuor Diotima, Saxophonquartett xasax, Trio Catch sowie Einzelsolisten und die Ensembles Ascolta, Nieuw, recherche und eine Kammerorchesterformation des WDR Sinfonieorchesters Köln bewegen sich in herkömmlichem kammermusikalischem Rahmen. Neue Werke dafür schrieben Steffen Krebber, Andrew Digby, Annesley Black/Robin Hoffmann, Ming Tsao, Alberto Posadas, Fabien Lévy, Dieter Ammann, Ivan Fedele, Bernhard Lang, Ondrej Adámek, Emre Sihan Kaleli, Márton Illés, Misato Mochizuki, Julien Jamet und Vykintas Baltakas.
Andere Projekte indes beschreiten Pfade jenseits der üblichen Besetzung, Orts- und Materialwahl. Intermediale Erweiterungen gestalten Unsuk Chins Pantomime „cosmigimmicks“ und Johannes Kreidlers „Shutter Piece“ für acht Instrumente, Zuspielung und Video. Schließlich streuen die „Wittener Tage“ unter dem Motto „wittendrin“ auch Satelliten in die Fußgängerzone und das Wiesenviertel der Stadt: Peter Ablinger bespielt Schaufenster, Georges Aperghis lässt Schlagzeuger/Darsteller in Erscheinung treten, Erwin Stache schafft einen „Klang Spiel Ort“, Neele Hülcker unternimmt „Interventionen im Wohnraum“, Matthias Kaul betreibt einen „Musikverkauf aus Haushaltsauflösungen“ und Manos Tsangaris instrumentiert seine als „Hörfilm“ gedachten „Beiläufigen Stücke“ gar mit mobilen Ensembles, Straßenbahnen und wanderndem Publikum. Kammermusik auf Freigang!
Weitere Uraufführungen
- 8.4.: Peter Köszeghy, Pan Satyros für Flöte und Harfe, Gare du Nord Basel
- 17.4.: Ludger Vollmer, Border, Jugendoper nach einem Fluchtplan von Euripides, Staatstheater Karlsruhe
- 19.–21.: Julián Quintero, Steingrimur Rohloff, Jorge Horst, Volker Heyn, Forum neuer Musik, Deutschlandfunk Köln
- 19.4.: Gordon Kampe, Sindbad der Seefahrer für Sprecher und Stimmen, Musikhochschule Stuttgart
- 19.4.: Enjott Schneider, 7. Symphonie „Dunkelwelt Untersberg“, Theater Bad Reichenhall
- 21.4.: Friedrich Cerha, Rhapsodie für Klarinette, Mozarteum Salzburg
- 26.4.: Salvatore Sciarrino und Rebecca Saunders, neue Werke, musica viva Herkulessaal München