Die norwegischen Schwestern Ragnhild und Eldbjørg Hemsing sind international gefeierte Violinsolistinnen. Während Eldbjørg die Konzertpodien der Welt bereist, gibt sich Ragnhild bodenständig. In der Region Valdres, wo sie mit ihrer Familie lebt, gründete sie das Hemsing-Festival, das im vergangenen Jahr sein zehnjähriges Jubiläum zelebrierte. 18 Termine listet der Kalender in diesem Februar und fast ebenso viele Konzertformate: eine Weinprobe hier, ein Konzertquiz dort, ein Frühstücks- und ein Kindergartenkonzert, Meisterkurse und Tanzschnupperkurs, ein Hauskonzert bei Hemsings, eine Kirchenmesse. Alles maximal 90 Minuten, alles ohne Pausen, ohne Zugaben.
Geigen im tiefen Schnee
Die Frydenlund Station in Aurdal, knapp 200 Kilometer nördlich der norwegischen Hauptstadt, ist ein 1801 erbauter Holzbau mit ockerfarbenem Anstrich und weißen Schnitzornamenten an Giebeln und Balkonen. Einst fanden hier die müden Reisenden zwischen Oslo und Bergen Obdach. Später fungierte die Station als Telegrafenamt, das alte Schaltpult ist noch erhalten. Hier startet das Festival der Geigerin Ragnhild Hemsing in familiärer Atmosphäre. Bente Hemsing (Ragnhilds Mutter) begrüßt die knapp 30 Besucher, es gibt Tee und Gebäck, Sivert Holmen spielt mit der Hardanger-Fiedel auf. Reflexhaft sucht man den wohnzimmergroßen Saal nach Lautsprechern ab, denn bei vier Bordunsaiten reflektieren mehr Obertöne als sonst von den Wänden. Holmen stampft den Takt, er spielt einen traditionellen „Springer“, wie er in Oslo an der Musikhochschule gelehrt wird. Oder eben bei Hemsings.
Ragnhild Hemsing kombiniert auf ihren CDs die klassische Geige mit Hardanger-Fiedel. Für das vom WDR produzierte Album „Røta“ (Wurzeln) erhielten sie und ihre beiden Mitmusiker Benedict Kloeckner (Cello) und Mario Häring (Klavier) 2021 einen Opus Klassik. Auch auf ihrem Festival erklingt reichlich Volksmusik, meist für die Hardanger-Fiedel, darunter das atemberaubend schöne Instrument, das Ole Bull spielte, der legendäre „Paganini des Nordens“. Mit Volksmusik präsentieren sich auch die Absolventen des festivaleigenen „Framr“-Programms. Wenn etwa Marius Westling einen „Springer“ auf der Hardanger-Fiedel spielt, verzaubert ein Lächeln die Gesichter des heimischen Publikums.
Kulinarik, norwegisch
Auf dem Noraker-Hof, wenige Autominuten von Aurdal, verschwistert sich die Volksmusik mit regionaler Kulinarik. Nils Noraker, der für norwegische Verhältnisse kleine, schwarzhaarige und auskunftsfreudige Besitzer des Hofes, züchtet hier Forellen und stellt den „Rakfisk“ her, in Salzlake fermentierte Forelle. Nils führt den Hof in zwölfter Generation, produziert jährlich rund 30 Tonnen Fisch und räumt damit beim norwegischen „Rakfisk“-Wettbewerb ab. Die Fische eines Wettbewerbers, sagt er freundlich, seien sehr gut, kämen aber leider aus Schweden. Damit ist alles gesagt. Seine Fische überwintern in einem Bassin, das wilde Eisskulpturen einrahmen. Vorsichtig legt er sie in die Lake – drängen fremde Bakterien ein, wäre die ganze Mühe umsonst – und wartet fünf oder mehr Monate auf einen milden, gelagerten oder gut gelagerten „Rakfisk“. Der „gut gelagerte“ explodiert im Gaumen, man isst ihn in hauchdünne Kartoffelfladen gerollt, mit roten Zwiebeln und Rømme (saurer Sahne). Das Lunchkonzert auf dem Hof eröffnet Eldbjørg Hemsing mit einer Romanze von Johan Svendsen. Cellist Owen Sørbje hat am Vormittag einen Meisterkurs bei Benedict Kloeckner besucht, jetzt spielt er Strawinskys „Suite Italienne“, am Abend wird er zwei Sätze aus einer Bach-Suite präsentieren, während Silje Wøhni einen ausdrucksvollen Tanz ausführt. So kommen auch die Absolventen der von Ragnhild Hemsings Ehemann Hallgrim Hansegård geleiteten Tanzcompany „Frikar X“ zum Einsatz. Hauptattraktion des Festivals sind die unterschiedlichen Spielorte in und um Aurdal. Zum Beispiel die dreihundertjährige Kirche, ein außen weiß gestrichener, innen naturbelassener Holzbau mit nüchterner Akustik. Die Kirche fasst den größten Veranstaltungsraum von Aurdal, und während draußen das Thermometer bereits Minus 25° anzeigt, funktioniert die Heizung unter den Sitzbänken.
Im Festivalhotel Nythun, eine halbe Autostunde bergan von Aurdal gelegen, wetteifern die Musiker mit der ausgezeichneten Küche. Einen halben Meter hat es geschneit, durch die Fichtenwälder ziehen sich jungfräuliche Langlauf-Loipen. Beim Abendkonzert haben Marit und Jørn Utheim alle Hände voll zu tun, die Haus- und Konzertgäste mit einem vorzüglichen Viergang-Menu mit Weinbegleitung zu versorgen. Marit erbte das Hotel von ihrem Vater und Jørn, der sich mit den deutschsprachigen Gästen gerne in deren Muttersprache austauscht, hat in Lyon gelernt und könnte auch in der Hauptstadt kochen, hat sich aber für die Idylle in Aurdal entschieden.
Festival-Kapelle
Die Fjellkirke (Bergkirche) liegt im tiefen Schnee, und tatsächlich nutzen viele Besucherinnen und Besucher die Gelegenheit, um die hoch gelegene Holzkapelle auf Skiern zu erreichen. Eine Schräge wirft die Streicherklänge nach vorne und sorgt für warme und runde Akustik. Der beste Konzertort des Festivals. Ihn liebt auch Bratschist Nils Mönkemeyer, der zu den Stammgästen bei Hemsings gehört.
Auch das Maxwell Quartet tritt mehrfach auf. Die vier Musiker lernten sich an der Musikhochschule im schottischen Glasgow kennen und gewannen 2017 den Ersten sowie den Publikumspreis beim Trondheimer Kammermusikwettbewerb. Neben Haydn und Mozart spielen sie in der weißen Holzkirche von Aurdal auch eine jener Aufführungen, die sich das Festival öfters leisten sollte: zeitgenössische Musik. Die Uraufführung „Thar Farraige“ der irischen Komponistin Linda Buckley kombiniert einen modernen Dudelsack (Brighde Chaimbeul pumpt einen Blasebalg, statt die Luft einzublasen) mit Streichquartett. Eine esoterische Komposition, abgelauscht den Klagegesängen schottischer Volksmusik. Im Abschlusskonzert präsentiert das Maxwell Quartet Felix Mendelssohns f-moll-Quartett op. 80 so gehetzt und von Dämonen besessen, wie Mendelssohn das Werk kurz nach dem Tod der geliebten Schwester empfunden haben mag.
Am Ende lebt das Hemsing-Festival nicht nur von Fisch, Schnee und Holz, sondern von der Musik. Mezzosopranistin Ingeborg Gillebo zeigt an vier verschiedenen Konzertorten die ganze Bandbreite ihrer Kunst und brilliert mit einem Ausschnitt aus Schumanns „Frauenliebe und -leben“. Bei Schumanns Klavierquintett op. 44 trifft Ragnhild Hemsing auf Mönkemeyer sowie auf Stephen Waarts und Benedict Kloeckner, beides herausragende Absolventen der Kronberg Academy, und CD-Mitstreiter Mario Häring am Klavier. Egal in welcher Formation diese Musiker auftreten – immer stehen große Spielfreude und perfekte Klangbalance im Vordergrund. Zum Höhepunkt gerät das erste Streichsextett von Johannes Brahms. Eldbjørg Hemsing formt mit Mönkemeyer, Waarts und Kloeckner sowie mit Elliott Perks und Duncan Strachan vom Maxwell Quartet ein Ensemble, das so spielt, wie man es unter Freunden tut: Man feuert einander an, geht ins Risiko und gewinnt alles – insbesondere im wilden dritten Satz. Die Behutsamkeit, mit der sich Eldbjørg Hemsing in Tschaikowskys „Souvenir d’un lieu cher“ hineintastet, anstatt die große Virtuosengeste zu schwingen, beweist das musikalische Format der Geigerin (deren Tan-Dun-CD ich empfehle).
Springer auf der Fiedel
Den letzten Festivaltag eröffnet eine protestantische Messe in der Kirche zu Aurdal. Am „Fastelavnssøndag“ füllt sich das Gotteshaus bis auf den letzten Platz, Akkordeonist Jo Asgeir Lie hat die liturgischen Abschnitte der Messe komponiert. Die frohe Botschaft des Christentums unterstreicht am Ende ein „Springer“. Anschließend isst man im Gemeindehaus von den vorzüglichen Kuchen, die die Gemeindemitglieder gebacken haben. Beim letzten Konzert bedanken sich die Hemsing-Schwestern bei allen Unterstützern, familiären wie mäzenatischen. Zum Abschluss erklingt das Klavierquartett op. 41 von Camille Saint-Saëns, und es spricht für die Natürlichkeit, mit der Ragnhild Hemsing all dies plant, dass sie die letzte Runde ihren Gästen überlässt: Waarts, Mönkemeyer, Kloeckner und der fantastischen Pianistin Tamar Beraia.
Draußen hat die Kälte nachgelassen. Reich beschenkt und künstlerisch bestärkt begibt man sich in den winterlichen Vorabend.
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