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Geist und Esprit

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Jacques Offenbach: La Vie Parisienne. (Text: H. Meilhac/L. Halévy, dt.: Bernd Wilms. Textfassung S. Cambreling/C. Marthaler); G.F. Valentine, M. Matschke u.a., Gesang; Klangforum Wien, S. Cambreling (Live-Mitschnitt Berlin, 17.6.1998). col legno edition WWE 2CD 20100

Das ist einfach großartig, mit dem das insbesondere auf Zeitgenössisches spezialisierte Label col legno hier eine neue Editions-Reihe startet: mit mehr Aufwand, mit Betonung besonders herausragender und interessanter Produktionen. Schon die Besetzung verrät das Außerordentliche. Das Klangforum Wien, derzeit das vielleicht profilierteste Ensemble für die Musik der Gegenwart, und sein „Interims-Leiter“ Sylvain Cambreling haben sich mit dem findigen Regie-Exzentriker Christoph Marthaler zusammengetan, um eine neue Version von Jacques Offenbachs Operette „Pariser Leben“ zu erarbeiten. Herausgekommen ist ein Furioso an Witz, Leichtigkeit, musikalischer Verve, ein Glanzstück, wie man es nur selten erlebt. Geist und Esprit nämlich werden transportiert, herübergeholt ins Heutige, ohne daß dabei dem Stück Gewalt angetan wurde. Offenbachs Meisterwerk ist ohnehin angefüllt mit frivolem Sarkasmus, gesellschaftlichen Spitzen, scharfsichtigen Analysen – und vor allem mit einer Musik, die in jedem Ton genau und treffsicher durchgestaltet ist. Banales und Tiefe, die Banalität der Tiefe und das Tiefe des Banalen verschlingen sich hier zu einem wunderbar virtuosen Reigen. Brechts Ideal der konkret scharfen Gesellschaftskritik im Gewande des lustvollen Vor-Zeigens ist hier schon um ein halbes Jahrhundert kühn vorweggenommen. Nicht nur Sänger singen hier, sondern auch Schauspieler; und es klappt auf exorbitante Weise (ungerechet jemanden hervorzuheben, aber ganz herrlich Sophie Rois als Métella/Pauline). Der Sprechton, feinsinnig angespitzt, wie man ihn nur in besten Komödiendarbietungen erlebt, verbindet sich ganz natürlich mit dem Gestus des Singens, wächst mit ihm bruchlos zusammen. So hat Offenbach auch komponiert, der Klang des Sprechens wird zur Linie des Gesangs, zum gesprochenen Zitat korrespondiert das musikalische, Taumel der Argumente wird zum Taumel der Nummern. Und nichts von hoher Kunst, von Pathoslinie des akademischen Gesangs waltet hier, die so oft selbst in die leichteste Operette hineintriefen; nur luftige Fülle des Lebens und seiner Widerhaken. Bewunderswert die kammerorchestrale Fassung von Cambreling. Da ist alles luzide durchsichtig gesetzt. Der virtuose Überschwang der Musik nimmt dadurch keinen Schaden, ja er tritt deutlicher hervor. Das liegt natürlich auch am beglückenden Niveau des Klangforums, das all seine Erfahrungen mit zeitgenössischen Eskapaden einbringt und dennoch, oder gerade deshalb, in dieser Musik sofort ganz heimisch ist. Mit Schwung, Eleganz, Transparenz, Disparatheit und viel, viel frechem Witz. So muß man heute Operette machen, wobei der Gattungsbegriff in bezug auf dieses Stück zu kurz greift. Denn es ist bei aller Lust ein radikales Stück. Und Lust wie Radikalität sind in dieser Einspielung auf beste Weise aufgehoben.

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