Vollendet ist das große Werk: Wolfgang Rihm komponierte noch ein letztes Stück für seinen nunmehr zehnteiligen „Chiffre“-Zyklus. Es trägt den zweifellos sinnstiftenden Titel „Nach-Schrift“ und im Untertitel „Eine Chiffre für Ensemble“. Das „Ensemble“ wird gebildet aus Flöte, Oboe, Klarinette (auch Bassklarinette), Fagott, Horn, Trompete, Basstrompete, Posaune, Schlagwerk (unter anderem mit zehn Cymbales antiques), 2 Violinen, Viola, 2 Violoncelli, Kontrabass sowie einem solistisch eingesetzten Klavier. Das Werk, dessen Entstehungszeit mit 1982 und 2004 angegeben wird, entstand im Auftrag der Kunststiftung Nordrhein-Westfalen und der „musikFabrik“, deren Ensemble für Neue Musik es jetzt im Rahmen einer Gesamtaufführung des Zyklus im Großen Sendesaal des Westdeutschen Rundfunks Köln uraufführte.
Wie „Chiffre I“ beginnt auch „Nach-Schrift“ mit dominierenden markanten Tonrepetitionen des Klaviers, die sich sofort in den von den anderen Instrumenten gebildeten Klangraum gleichsam „einmeißeln“. Die repetierenden Elemente und Figurationen pflanzen sich auch in anderen Instrumenten fort, äußerst differenziert in Energieabstrahlung und Bewegungsstruktur. Man darf das durchaus mit dem Schaffensakt eines Bildhauers vergleichen, der mit Hammer und Meißel dem ungeformten Steinblock „hämmernd“ zu Leibe rückt, aus diesem die „Figur“ (abstrakt oder auch gegenständlich) hervortreibt. Rihms Steinblock ist der zunächst noch offene, leere Raum, in den er dann unablässig, wie er es formuliert: „... eine Folge klingender Zeichen, meist scharf gemeißelt, wie Hieroglyphen, Keilschriften, fremde Zeichen...“ hineinschreibt, so einen Klang-Raum erstellend, der durch „Zeichen im Klang“ definiert wird. Was dabei entsteht, ist bereits das Werk selbst, nicht das Material, das dann, wie bei anderen Komponisten, erst zur Komposition verarbeitetet wird. Physiker und Mathematiker können bei Rihms Klang-Zeichen-Setzungen an die höchst komplexen Prinzipien der Vektor-Rechnung denken, die Definition und Berechnung von Vektor-Räumen durch Pfeile, die Angriffspunkt, Richtung und Größe bezeichnen.
Rihms komponierte „Vektoren“ beschränken sich nun nicht auf physikalisch-mathematische Klang-Operationen. Dabei würden wohl letztendlich nur trocken-abstrakte Musik-Gebilde herausspringen. Auch in den „Chiffre“-Stücken, die in den achtziger Jahren in loser Folge herauskamen und einzeln aufgeführt wurden, präsentiert sich, ebenso wie nun in der „Nach-Schrift“, ein kompositorischer élan vital, der zu überwältigen vermag. Rihm selbst hat für sein Arbeiten Begriffe wie „vegetatives Komponieren“ oder „genetisches Material“ (das es zu bearbeiten gilt) geprägt. Das klingt nach Zügellosigkeit, Formlosigkeit, Willkür, falsch verstandener Freiheit. Gerade aber wenn man jetzt den kompletten „Chiffre“-Zyklus in einer Live-Aufführung erlebt, erkennt man auch, wie diszipliniert Rihm seine Klang-Imaginationen „wuchern“ läßt, wie die „Erfindungen“ im scheinbar freien Klang-Raum konzentriert werden, dabei quasi Form konstituierend: die freie, variable Form einer „Klang-Skulptur“. Eine latente formale Klammer entsteht auch durch gewisse Kontinuitäten. Die einzelnen Stücke wirken in ihrer unmittelbaren Aufeinanderfolge wie ein Staffettenlauf: Bestimmte instrumentale Passagen, wie das schon genannte „Klavier-Hämmern“, kehren modifiziert häufig wieder. Ein verbindender Gestus folgt auch aus der Besetzung der einzelnen „Chiffren“. Ensemble-Formationen umfassen nicht mehr als sechzehn, siebzehn Instrumentalisten, es gibt Besetzungen für acht, neun, zwölf und vierzehn Spieler und sogar in „Chiffre IV“ ein Trio mit Bassklarinette, Violoncello und Klavier: ein scheinbar aus dem Rahmen fallendes Stück mit statischen, auch changierenden Klängen, schnellen rhythmischen Akzentuierungen, die wie motivische Restpartikel anmuten. Im Umfeld der anderen Werke wirkt das Trio wie eine Kleinplastik, eine gleichsam „vollendete“ Vorstudie für ein größeres Format.
Einen besonderen Platz im Zyklus nimmt, außerhalb der Bezifferung wie die „Nach-Schrift“, die Chiffre „Bild“ ein: die Komposition „Bild“ entstand 1984 als Auftrag des WDR in Korrespondenz zu Bunuels und Dalis surrealistischem Film „Un chien andalou“ aus dem Jahr 1928. Es ist keine Filmmusik im üblichen Sinn, keine Begleitung der schockierenden Kino-Bilder durch Musik, sondern eine freie Adaption des Optischen in Klang, in eine autonome, zeichen-und gestenreiche „Übersetzung“ filmischer Ausdrucksmittel in musikalische. Rihm läßt die parallele Aufführung zu, bevorzugt aber die getrennte Vorführung: Das machte hier auch deshalb mehr Sinn, als man so die bemerkenswerte Plastizität der „Bild“-Komposition ungestört erfahren konnte. Die einkomponierten scharfen Schnitte wirkten wie ein schockierender Reflex auf den berühmten „Augenschnitt“ am Beginn des Films, bei dem sich Rihm ausdrücklich keine Musik wünscht. Die Musik ähnelt hierbei den Horizonten auf den Bildern Caspar David Friedrichs:
Auch diese wirken in ihrer scharfen Linearität, als hätte man dem Betrachter die Augenlider mit einem Rasiermesser weggeschnitten. Auch Assoziationen entwickeln sich oft vegetativ. Die Kölner Aufführung des kompletten „Chiffre“-Zyklus gestaltete sich zu einem Triumph für den anwesenden Komponisten und für das Ensemble der „musikFabrik“, das unter der Leitung von Stefan Asbury förmlich einen Qualitätssprung absolvierte. Herausragend: Der Pianist Ulrich Löffler als personifizierter Basso continuo im Ensemble.