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Dracula als Tanz am Theater Gera. Foto: Theater Gera
Dracula als Tanz am Theater Gera. Foto: Theater Gera
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Gera: Das Thüringer Staatsballett tanzt „Dracula“ zum Soundtrack von Wojciech Kilar

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Silvana Schröder, Direktorin des Thüringer Staatsballetts, hat einen vielseitigen Bezug zur Musik. So lebt ihr seit Februar 2016 immer ausverkaufter Ballettabend „Piaf“ vom tänzerischen Zusammenspiel mit der Sängerin Vasiliki Roussi. Für die Uraufführung „Anita Berber“ von Jiri Bubinicek vergab das Theater Altenburg-Gera sogar – heute selten für ein Ballett – eigens einen Kompositionsauftrag an Simon Willis. Die Festwoche des Thüringer Staatsballetts bis 4. Februar wurde eröffnet mit der Uraufführung von Silvana Schröders „Dracula“, ein guter Anlass auch zum Nachdenken über Musik im neuen Ballett heute.

„Dracula“ wird in Gera auch durch suggestive Ausstattung und üppige Kostüme zum magischen Gothic-Traum.Es ehrt Silvana Schröder und ihre Ausstatterin Verena Hemmerlein, dass beide aus dem Longseller viel mehr ziehen als ein marktkonformes Halloween-Bacchanal für großes Ballett. Inspirationspunkte aus dem Film „Bram Stoker’s Dracula“ von Frank Coppola (1992) und pantomimische Bilder zum Roman sind nur die Startrampe, erklärende Dialogfetzen des Ensembles halten sich in Grenzen. Da vertraut die Choreographin leider zu wenig der eigenen dramaturgischen Beredsamkeit und opfert einige poetische Momente dem zwar plausiblen, aber unbegründeten Zweifel an szenischer Deutlichkeit.

Seit ihrem Tanzstück „ZeitPunkt“ ist für Silvana Schröder die Filmmusik von Wojciech Kilar ein Ideenpfeiler, auch wenn sie durch permanenten Überdruck, üppigste Instrumentation und hämmernde Effekte eine lastende Hypothek über dem Tanzgeschehen werden könnte. Tonkonserven vom Band sind üblich bei Ballettaufführungen, doch für die tänzerische Realisierung eines analogen Sujets wie jetzt nach dem vielfach verfilmten „Dracula“ ist die Verwendung des Soundtracks als Tonkonserve ein ästhetisches Risiko für den getanzten „Dracula“. Warum?

Musik, die im Film überwiegend als Hintergrund und Folie verwendet wird, gewinnt als akustisch Absolutes Dominanz und sogar Überpräsenz. Ist sie Teil unseres kollektiven Gedächtnisses – wie Wojciech Kilars Partitur und der Soundtrack des Polnischen Radiosinfonieorchesters – dominiert und manipuliert sie die Gedanken der Theaterzuschauer, egal ob man das will oder nicht. Bühnengeschehen und die Erinnerung an die Filmmomente kollidieren, wenn die Theatersituation keine starke Kraft gegen die jederzeit überprüfbaren szenischen Bilder aufzubieten vermag.

Die nötige szenische und thematische Power entwickelt das Thüringer Staatsballett hier mit der Choreografie ohne Einschränkung, so gewinnt sie das Ringen mit dem überaus bekannten Stoff und auch gegen die oft plakative Überwältigungskraft der Musik Kilars. Zugleich federt die Leistungskraft des Ensembles die Dominanz der Musik ab, weil Choreografie und tänzerische Sinnfälligkeit dem Plot neue Akzente abgewinnen und diese auch spannend visualisieren. Aus der Idee, dass es bei Verletzungen durch Liebe kein moralisches Werten nach Gut und Böse geben kann und dass es in „Dracula“ auch um Verstehen von Grenzen und Grenzüberschreitungen geht, entsteht in Gera eine ernst zu nehmende Adaption mit Eigenprofil.

Bram Stokers Roman-Mix aus Horror und Krimi wird zum Anti-Passionsspiel: Der Held ist tot, der Sarg ist leer – das Grauen scheinbar aus der Welt, die bedingungslose Liebe aber auch. Das Thüringer Staatsballett und Silvana Schröder verströmen in nur 95 Minuten so viele Feinheiten, psychologischen Entdeckergeist und romantische Vitalität, dass man von der Intendanz des Theaters Gera sofort eine der großen Totalopern aus dem Pariser Palais Garnier mit diesem Ensemble einfordert. Das gilt schon für den Prolog, in dem das Riesenschwert des düsteren Fürsten Vlad Feinde wie Bäume fällt und er im Fluch auf Gott nach dem Tod seiner Elisabetha zum Vampir wird.

Elisabetha und Mina Murray, in die sich Fürst Vlad vierhundert Jahre später verliebt, sind die gleiche Darstellerin. Schröders „Dracula“ wird zum Liebestraum mit Liebesmord, wenn Mina selbst Dracula töten und erlösen wird. Es greift nicht zu hoch, wenn man die hellblonde Daria Suzi und Filip Kvačák, der ein bisschen aussieht wie Antonio Banderas in „Interview in einem Vampir“, auf das gleiche olympische Podest hebt wie Othello und Desdemona oder Tannhäuser und Venus. Das holen die Tänzer nicht aus der Musik, sondern ganz aus sich. Schauplatz ist eine schaurig schöne Ruhmeshalle über der alten Welt Transsylvaniens und dem prosaischen London.

Schade, dass hier ein toller Tänzer wie Hudson Oliveira als Jonathan Harker bürgerlicher Durchschnitt sein und die drei „Musen“ Draculas, Visionen wie aus einem Bordell bei Proust, fliehen muss. Bedrohungen lauern überall: Die fröhliche Runde um Lucy ist mehr als ein prüdes Picknicktreffen und knistert erotisierend. Anastasiya Kucina braucht keine große Wahnsinnsnummer – alles ist klar, wenn sie blutleer daliegt wie das Traumopfer unter dem „Nachtmahr“ von Füsslis Gemälde. Der Abend entführt in ein künstlerisches Schweben, wenn Silvana Schröder hinreißende Simultan- und Gruppenszenen aufbaut wie die Spießerjagd auf das Vampirmonster, wenn sich Mina und Dracula suchen und Lucy hinten verlöscht.

Drei Stars haben Jubelqualität: Zwei von ihnen sind die glatzköpfigen Diener Draculas (Fabrizio Matarrese, Kristian Matia), bizarre Charakterfiguren mit wirklich lasterhaftem Tanzappeal. Der bewegendste Part im vampirischen Marterspiel ist aber der wahnsinnige Renfield, der sich nach der Unsterblichkeit seines Meisters Dracula verzehrt und ihm vergebens die Kehle zum Biss bietet. Jon Beitia Fernandez zelebriert an Spinnenseilen tieftraurige Marterfiguren im Pandämonium unerfüllter Hingabe.

Und er wurde zum Inspirationspunkt zu einem erweiterten Einsatz von Musik: Jon Beitia Fernandez spielt selbst Debussys „Clair de lune“, Bachs Adagio aus BWV 974 und ein Haydn-Cantable aus Hob. XVI/49 II. Diese Klavier-Piècen tönen zwischen Kilars hypertrophen Orchester-Eruptionen wie aus einer anderen Welt und zeigen endlich auch akustisch die subtilen Seiten der Figuren, die von den Tänzerinnen und Tänzern ja ausdrucksstark dargestellt werden. Trotzdem: Kilars Fortissimo-Overflow ist ein Verführungsangebot an die Zuschauer, die vielen leisen Akzente von Schröders Tanzsprache in ihrer Wahrnehmung analog zur Musik aufzublasen und deshalb deren Feinschliff zu übersehen. Eine interessante Wahrnehmung ist das. Nicht zuletzt deshalb wertet dieser Kontrast den faszinierenden Alleingang Fernandez‘ als Tänzer und Musiker zum Glücksfall für diese am Ende vom Publikum lautstark gefeierte Vampirhölle auf.

Die Reise zu den Vorstellungsserien in Gera und Altenburg lohnt nicht nur für Vampiristen und es spricht für die Ensembledynamik des Thüringer Staatsballetts, dass für die zahlreichen Hauptrollen je drei einstudierte Besetzungen bereit stehen.

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