Seit zwanzig Jahren wird die Pädagogische Hochschule in Weingarten für ein langes Wochenende im November zum Zentrum für zeitgenössische Musik, ermöglicht außergewöhnlich konzentrierte Begegnungen zwischen Komponisten, Interpreten und Publikum.
Zum 20. Jubiläum hatte man Georg Friedrich Haas eingeladen, der wenige Wochen zuvor auch in Donaueschingen mit seinem „Hyperion“ für Lichtstimme und Orchester für außergewöhnliche Hörerfahrungen gesorgt hatte (siehe Bilder oben). In Weingarten hörte man Werke aus verschiedenen Perioden von Haas’ kompositorischer Arbeit, die er als sehr repräsentativ für sein Schaffen empfand. Als deutsche Erstaufführung erklang die Kurzoper „Adolf Wölfli“ aus den Jahren 1980/81, in der Haas die Isolation und das In-Sich-Eingesperrt-Sein der historischen Person Adolf Wölfli auf der Bühne darstellt – der südkoreanische, in Bremen ausgebildete Bariton Jinwon Yang und das Freiburger Ensemble Aventure unter Christian Hommel meisterten diese schwierigen Aufgaben mit Bravour. Im Übrigen reichte die Programmauswahl bis zu ganz aktuellen Kammermusikwerken wie „Haiku“ für Bariton und Ensemble, „Finale“ für Flöte solo oder „Ein Schattenspiel“ für Klavier und Live-Elektronik, alle drei aus dem Jahr 2004: Im letztgenannten wurde der Pianist des Ensembles Aventure, Florian Hoelscher, gleichsam mit dem durch leichte Beschleunigung um einen Viertelton angehobenen Echo seines eigenen Spiels konfrontiert.
Wie immer in Weingarten setzten sich ausgezeichnete Musikerinnen und Musiker für die Werke und ihre Vermittlung ein: Neben dem Ensemble Aventure Freiburg unter Christian Hommel vertiefte sich das ganz auf das zeitgenössische Streichquartettschaffen konzentrierte Kairos Quartett aus Berlin in die außergewöhnliche Klangwelt von Haas. In einer großen Dichte, die keine Note überflüssig oder zu viel erscheinen lässt, sind seine Kompositionen getragen von einem alles überspannenden Bogen.
Haas schöpft die Spieltechniken und den Klangraum vor allem der tiefen Blasinstrumente (Altflöte und Bassklarinette) aus, erzeugt auf den Schlaginstrumenten ein feines Gespinst von sirrenden Tönen und heftigen Explosionen. In „Finale“ für Flöte solo wird ein gezacktes, abspringendes Kernmotiv unendlich fein variiert, in Einzelteile zerlegt, umspielt, mit verschiedenen Anblastechniken macht die souveräne Flötistin Martina Roth Haas’ Mikrotöne erfahrbar. Herausgegriffen sei auch das Sextett „Tria ex uno“ nach einem Teil einer Messe von Josquin Desprez, deren Stimmen zunächst auf die Instrumente übertragen werden, dann jedoch gleichsam übermalt, kommentierend instrumentiert, aufgefächert und der Tonsprache des österreichischen Komponisten anverwandelt werden. Immer wieder sammeln sich die Klänge zu Akkordrepetitionen von bohrender Intensität, neben den mikrotonalen Klangschwebungen ein Kennzeichen seiner Musik. Außergewöhnliches erlebte jenes Publikum, das sich im Nachtkonzert den in absoluter Finsternis dargebrachten Klängen des dritten Streichquartetts „In iij Noct“ aussetzte: wahrlich keine besänftigende Meditationsmusik, vielmehr eine 45-minütige Schule des Hörens und Lauschens, der wispernden, knarzenden, im Raum umlaufenden Geräusche, der wundersamen Klänge, die sich aus den 17 akustischen Spielanweisungen für das mit Haas’ Musik absolut vertraute Kairos Quartett ergeben. Das alles im Festsaal, dessen Fenster mit schwarzer Folie, die jeden Lichtschimmer von draußen aussperrt, verkleidet waren – ein Erlebnis der besonderen Art. Die in den vier Ecken des Raums postierten Musiker entwickeln ein Frage- und Antwortspiel der facettenreichsten Art. Klänge schrauben sich hoch, sie wirken bedrohlich, schmerzlich, bäumen sich auf, entspannen sich, werden neu angesetzt, bilden reine Harmonie.
Wie eine Insel der Seligen taucht das Zitat aus einem Responsorium des Renaissancekomponisten Gesualdo auf – wie das Quartett den Einsatz nach einer langen Generalpause mit solcher Einmütigkeit erspürt hat, war auch dem Komponisten ein Rätsel. „In iij Noct“ – „In jener Nacht“, gemeint ist die des Gründonnerstags vor der Gefangennahme Christi, ist alles enthalten: absolute Einsamkeit, Grauen, Angst und Hoffnung auf Erlösung.
Der Komponist, der auch in früheren Werken von den Nachtseiten des Menschen und der Dichtung angezogen war (und etwa bei „In vain“ und in „Die schöne Wunde“ bereits Passagen in völliger Dunkelheit spielen ließ), geht hier sicher an die Grenzen des Möglichen und Aushaltbaren. Selten gab es so lebhaften Austausch unter dem tief berührten Publikum, den Musikern, die hier beste Konzentration erlebt hatten, und dem glücklichen Georg Friedrich Haas.
Die XXI. Internationalen Weingartener Tage für Neue Musik im kommenden Herbst sind der Komponistin Isabel Mundry gewidmet.