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Wolfgang Rihm. Foto: Ch. Oswald
Wolfgang Rihm. Foto: Charlotte Oswald
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Geschenkte Alt-Komponisten, verschenkte Jugend und verspielte Sendeplätze – musica viva Wochenende in München

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Mitte der Neunziger Jahre konnte man unter Freaks sagen, wer Wolfgang Rihms „In-Schrift“ (1995) nicht kenne, kenne eines seiner besten Stücke nicht. Nicht so wild wie Tutuguri, dennoch treibend, zerfahren, leicht daneben, eben ein richtiger, sehr guter Rihm. Nun hat er dem „In-Schrift 2“ (2013) hinzugefügt. Das Sinfonieorchester des Bayerischen Rundfunks, mit etlichen erfrischend jungen Gesichtern seiner Orchesterakademie an den hinteren Streicherpulten, die den älteren Semestern der Stammmusiker damit wohl einen Neue-Musik-freien Samstagabend bescherten, also dieses gleichsam hybride Ensemble eröffnete bestens aufgelegt den Klon von Nummer eins.

Nur wäre Rihm nicht Rihm, wenn es doch ein anderes Stück geworden wäre. Mit im Raum verteilten Klarinetten fing das Stück an, als hätte Rihm damit eine badische Version eines Moog-Synthesizers gefunden: extrem zart mit merkwürdig angenehmen Sekundballungen der tiefen Klarinettenregister kehrte der Klangfaden auf das Orchesterpodium zurück, wurde von vier vorne postierten Holzbläsersolisten übernommen, in den restlichen Klangkörper hineingetragen, pulsierte bald im Schlagzeug. Er legte sich über einen mit tiefen Flöten, hohen Celli und tiefster Bassklarinette eigentümlich gefärbten Meta-Bass, ballte sich zu einem Höhepunktsknäuel und verebbte wieder zu den Klarinetten des Anfangs. Irgendwie magisch, doch viel zu schön.

Formidabler Mittelpunkt war die souveräne Leitung des Dirigenten Peter Eötvös. Als Komponist steuerte er sein Violinkonzert Nr. 2 „DoReMi“ (2012) und „Seven – Memorial for the Columbia Astronauts“ für Violine und Orchester (2006, rev. 2007) bei. Beide Werke rückten die Geigen-Solistin Patricia Kopatchinskaja in den Mittelpunkt. In zweifacher Hinsicht war sie ein Traum! Zuerst machte ihr weiß-beiges Kostüm mit zartroten Stickereien mächtig Eindruck. Der Mund stand einem dann schier offen, als sie in den beiden Eötvös-Werken durch die Tiefen und Höhen ihres Instruments jagte. Der Komponist hatte ihr zwei Stücke in der Nachfolge von Ravels „Tzigane“ bereitet. Das Violinkonzert wirbelte die Buchstaben der Tonhöhen seines Titels durch die Luft, behexte mit ungemein virtuosen Durchläufen und riskierte in der Mitte eine klassische Reprise. Im besten Sinne traditionell zudem der Solopart, welcher eher an Alban Bergs Herausforderungen als John Cages ultimative Freeman-Etüden erinnerte. Die verzaubernsten Momente waren unerwartete Variationen von fallenden Linien, die das Orchester und Patricia Kopatchinskaja in ihren Spektralitäten und Flageoletts sowie kurzen Anflügen zackiger Rhythmen fröhlich zirpen ließen, als sei im Februar der Frühling ausgebrochen. Was im Violinkonzert juchzte, war in Seven ein elegischer Satz von weiteren im Raum verteilten Violinsolistinnen. Als Konzertabschluss entließ es das Publikum mit einem an Strawinsky erinnernden Duo zwischen Geige und Altflöte.

Höhepunkt war davor der Auftritt Helmut Lachenmanns als Sprecher in seinem Stück „… Zwei Gefühle …“ Musik mit Leonardo für Sprecher und Ensemble
(1992). Er gab sich die Ehre, seine auf explosive Konsonanten getrimmte Variante des Textes von Leonardo da Vinci in deutscher Übersetzung vorzutragen. Darin geht es um so was, wie den Beginn der neuzeitlichen empirischen Naturwissenschaft: Zuerst hat Leonardo Angst, sich der Lava des Strombolivulkans zu nähern und kann dann doch seiner forschenden Neugier nicht widerstehen. Dies interpretierten Lachenmann, das auf ein Kammerensemble reduzierte Orchester und der Dirigent Eötvös luzide. Konventionelle und erweiterte, für Lachenmann typische Spieltechniken griffen wunderbar ineinander, zeigten die graduellen Abstufungen von dissonanten Harmonien in fast schon als konsonant zu bezeichnende Geräusche. Und da liegt auch das Problem des Meisterwerks: Gab es früher regelmäßig Eklats um die neuen Spieltechniken des Komponisten, reihten sie sich als Rausch der Stille in den Rausch der praktischen Virtuosität Eötvös' und Rihms romantische Orchestrierungsdelikatessen nahtlos ein: allesamt wunderschön, und doch wehmütig alt, wie die Meister selbst.

Das war denn der wirkliche Wermutstropfen dieses dreitätigen musica-viva-Wochenendes. Am Abend zuvor begann man mit den mittleren Jahrgängen und beschloss am Sonntag mit Kammermusik der Jüngeren, Martin Smolka und Atac Sezer. Das Muster kennt man auch von ähnlichen Veranstaltungen in öffentlich-rechtlicher Rundfunkhand: die Jungen sind was für das Rahmenprogramm, die Alten sichern den Besuch der selbst ergrauten Neue-Musik-Hautevolee. Ähnlich risikoarm scheint der Bayerische Rundfunk zudem selbst geworden zu sein. Bisher wurden die Orchesterkonzerte regelmäßig freitags live übertragen. Nun fehlt das Signum „Livesendung“ bereits bei den folgenden Konzerten. Ob es an der ungünstigen Lage des hier besprochenen Konzerts an einem Samstagabend liegt oder ob dies die Vorzeichen einer neuen Zeit sind, müsste man genauer überprüfen. Immerhin war das Konzert fast ausverkauft. Nur ist der Rundfunk hier nicht nur Konzertveranstalter, sondern ebenfalls in der Pflicht, diese zeitgemäßem Konzerte seiner Klangkörper attraktiv in seinem Sendeprogramm zu präsentieren. Da mag man über Einschaltquoten lange reden, nichts ist besser als der Jahrzehnte bewährte Freitagabend auf Livesendung. Zwar ist das Wochenendprogramm nach der nachgeholten Sendung noch eine Weile verfügbar. Der Aufmerksamkeitsbonus der Einheit von gewohntem Ort und bekannter Zeit wird aber auf diese Weise leichtfertig aufs Spiel gesetzt.

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