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Tanztheater Derevo. Foto: Festspielhaus Hellerau
Tanztheater Derevo. Foto: Festspielhaus Hellerau
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Geschichten vom Krieg – Das Tanztheater Derevo im Festspielhaus Hellerau mit einer Uraufführung

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Das in Dresden residierende Tanztheater Derevo aus dem russischen St. Petersburg zeigt ein starkes Stück zum Krieg – die Uraufführung „Aerokraft“ ist eine multimediale Huldigung des Erneuerers Émil Jaques-Dalcroze.

„Ich danke dir, Krieg (…)
Du hast mein Leid fortgenommen, du hast meine Tränen getrocknet
nun muss ich mich nicht mehr quälen und nicht mehr altern
Ich bin dir dankbar, oh Krieg,
du hast mir das Leben genommen.“

Starke Worte, die Derevo-Gründer und -Inspirator Anton Adassinsky da zu einem strittigen Thema fand. Der umtriebige Choreograf, Tänzer, Regisseur und Schauspieler warf seine Poeme unters Volk und illustrierte damit zugleich das eigene neue Projekt. „Aerokraft“ ist ein ergreifendes Spektakel. Da kommt ein Mann aus dem Krieg und ist für alle Welt verloren. Adassinsky spielt ihn selbst, diesen überlebenden Mann. Einen Überlebten. Er stürmt mit Pickelhaube in den Saal, wirft sie umgehend von sich, entledigt sich aller militärischen Utensilien und steigt in einen schwarzen Anzug, statt martialischer Uniform trägt er nun weißen Kragen. Dieser Mann, ein Kriegstreiber und Mörder?

Die „Markenzeichen“ von Derevo sind kahle Köpfe und bedingungslose Hingabe an eine sehr spezielle Form von Tanztheater. Diesmal wird das in einen schlüssigen Kontrast gestellt, denn Adassinskys Kriegsheimkehrer trägt zunächst ein Toupet, wirft es jedoch rasch beiseite, weil die Köpfe seiner acht Tänzerinnen und Tänzer bis auf eine Ausnahme alle kahlgeschoren sind. Der einstige Soldat will wieder Mitglied der Gesellschaft sein. Seine Haut jedoch glänzt bronzen, schon diese Farbe hebt ihn ab.

Das Tanztheater Derevo erfindet sich mit jeder Produktion neu; umso erstaunlicher ist folglich, dass eine kommunale Evaluierungskommission diesem Ensemble erst kürzlich attestierte, es würde keine gesellschaftliche Bezugnahme haben und nicht innovativ genug sein. Möglicherweise hat da jemand bei den bisherigen Produktionen nicht richtig hingesehen oder aber Wiedererkennung und Innovation miteinander verwechselt. „Aerokraft“ serviert nun mit dem Holzhammer, wie relevant das künstlerische Tun dieses einzigartigen Theaters wirklich ist, wie sehr das Publikum daran Anteil nimmt (voriges Jahr wurden allein in Dresden rund 8.000 Besucher erreicht, was einer monetären Förderquote von etwa 10 Euro pro Gast entspricht!, hinzu kommen noch Gastspiele und Auslandsreisen). Derevos Ästhetik ist kaum austauschbar. Immerhin wurde die institutionelle Förderung trotz neidvoller Fehleinschätzung ohne Kürzung bewilligt. Ausnahmsweise mal gut angelegtes Steuergeld.

Die „Aerokraft“-Premiere im hundertjährigen Festspielhaus war ebenfalls bestens besucht und wurde mit laustarkem Beifall bedacht. Ein Aufeinandertreffen des Heimkehrers mit einer Gesellschaft, zu der er nicht mehr gehört. Die nichts von ihm wissen will. Fünf Szenen lang bemühte sich Adassinsky spielerisch suggestiv um Zugang zu seinem Ensemble – die Protagonisten dieser zwei Parallelwelten kamen nicht wieder zusammen. Er hat es sanft, er hat es mit Gewalt versucht, und dennoch blieb der einstige Krieger ausgestoßen. Denn er hat sich selbst aus der Welt des Humanen genommen (bzw. wurde von einer nicht weiter thematisierten Politik herausgerissen). Dass sein Leben damit vorbei ist, sieht der potentielle Mörder erst viel zu spät. Ob er mit der Pistole oder mit seiner Fernbedienung auf das Geschehen einzuwirken versucht, ist egal. Ihm bleibt zum Schluss nur noch, sich in seiner Nacktheit wie eine Schildkröte zu panzern.

Alle „anderen“ tanzen eine Formensprache, die das Versprechen der Dalcroze-Hommage erfüllt, bringen sportive Akrobatik und Tanz zusammen, geben mal Maschinenmenschen, mal erleuchtete Reformer.

Zu allen möglichen Deutungsversuchen bekommt das Publikum von einer brüchigen Kinderstimme Adassinskys Gedichtzeilen zum Krieg serviert, wird in die energetisch alles vorantreibende Musik von Nikolai Gusev getaucht und hat unablässig Videoprojektionen von Andrej Gladkigh vor Augen, in denen Maschinenschlachten und Luftkriege donnern – „wir fliegen zum Mars“ wird gesungen, während sich die Menschen auf der Erde zermürben. Ein kurzer, nur einstündiger Theaterabend, der sich mit seinen reizüberflutenden Eindrücken tief in die Gedankenwelten der Zuschauer frisst.

  • Termine: 25.12. Improvisationsabend „Schneeflocken“, 26./27.12. Wiederaufnahme „Once“, Ende Januar Gastspiel in St. Petersburg

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