Wie vertragen sich Ruggero Leoncavallo und Oscar Wilde, Verismo mit einer Uraufführung, der allbekannte „Pagliacci“ und ein Komponist namens Gordon Getty? An der Oper Leipzig wollte man's wissen.
Plakate und Programmheft, alles deutet darauf hin, dass dieser Doppelabend an der Oper Leipzig mit einer Uraufführung beginnt. Steht doch geschrieben „The Canterville Ghost“ (UA) / „Pagliacci“. Und dann startet die Premiere aber doch mit den bekannten Motiven aus der spielerischen Melodiefülle von Ruggero Leoncavallo. Ein Irrtum?
Nein, alles rechtens, der viel zu oft weggelassene Prolog zu diesem veristischen Zweiakter soll auf beide Bestandteile dieser Doppelpremiere einstimmen. Und wundersamerweise ist dies stimmig sowohl für die Opernadaption des Canterville-Gespentes von Oscar Wilde als auch für den Bajazzo-Krimi, der sonst so gern mit Mascagnis „Cavalleria rusticana“ gekoppelt wird. Nur: In diesem Fall ist es stets sinnvoll, die Uraufführung aber kommt mit einem eigenen Vorspiel am Grabe.
„The Canterville Ghost“ stammt vom US-Amerikaner Gordon Getty, Jahrgang 1933, den man entweder als den Komponisten von „Usher House“ nach Edgar Allen Poe oder als Sohn des Ölmagnaten J. Paul Getty oder gar nicht kennt. Er selbst bekennt, jeweils zwei Wochen für das Libretto, den Klavierauszug und die Instrumentierung gebraucht zu haben. Nun könnte ein Herr von jenseits der Achtzig durchaus verschiendenste Gründe anführen, die ihn zur Eile antreiben; manch ein genialisches Werk anderer Autoren ist freilich auch ohne Zeitnot in Kürze entstanden. Diese Geisteroper aber hätte gut und gern noch mindestens eine weitere Woche für Dichtung und Komposition vertragen. Denn was Wilde so spannend wie knapp über den typisch britischen Spuk in einem Schloss erzählt, das von einer amerikanischen Familie erworben wird, die an Geistergeschichten schlichtweg nicht glaubt, das ist hier lediglich als blanke Story durch die Musik gerieselt worden. Keinerlei dramaturgische Inspiration, um den Stoff für die Bühne interessant zu machen, keine Ausdeutung der agierenden Personage, das wird der Vorlage nur wenig gerecht. Die Zwei-Wochen-Musik hingegen ist derart traditionell, dass man denken könnte, der Zitatenreichtum dieser Oper sei vorher schon ausgewählt worden und habe dann nur noch passende Arrangements erfahren.
Nein, diese erste Leipziger Opernuraufführung seit beinahe zehn Jahren erfindet die Gattung nicht neu, schreibt sie nicht einmal fort, bietet weder den Hauch von Avantgarde noch bleibt sie beleidigend banal. Hier entstand schlichtweg aus Überfluss heraus eine weitere Nichtigkeit. Das soll ja vorkommen.
Getty schafft in seinem Pasticcio, das er als romantische Komödie bezeichnet, einen filmmusikhaften Stimmungsreigen, der das gesungene Wort und die behauptete Szene mit knappen Tonfolgen in für die Stimmung geeigneter Instrumentierung ergänzt, kommentiert und verdeutlicht. Novitäten sind darin nicht zu hören und wohl auch gar nicht gewollt. Über weite Strecken ist das dennoch ziemlich wirkungsvoll, weil Kontrafagott und Xylofon beispielsweise recht mystisch wirken können. Wenn dann noch ein paar Streichertöne geschichtet werden, rechtzeitig zu Spannung heischendem Decrescendo gebremst, vielleicht mit ein paar Blechsalven verfeinert und hölzern gewürzt, um hie und da einem Cembaloklimpern und mancherlei Zitaten aus Gettys musikalischen Vorlieben zu weichen, dann ist die musikalische Gruselstory schon beinahe perfekt. Sie braucht zur vollen Prachtentfaltung nur noch eine Kapelle wie das Gewandhausorchester, das unter dem Ersten Gastdirigenten Mattthias Foremny mit all diesem Material ziemlich kompetent umzugehen versteht.
Und es braucht eine Regie, die solch ein Kunsthandwerk halbwegs schmerzfrei abzulichten versteht. In der hübschen Dekoration von Tatjana Ivschina, die ein hübsches Märchenschloss auf die Bühne stellte, dem ab und an eine Silhuette des schauerlichen Anwesens vorgehängt wird, ist das Regisseur Anthony Pilavachi recht sauber gelungen. Er scheucht die Briten und Amerikaner – musikalisch mit „Rule Britannia“ und „Yankee Doodle“ garniert – die zwei Etagen rauf und runter, lässt das Gespenst aus seinem 300jährigen Exil durch eine große Standuhr ins Leben treten und schafft ihm dank der mitfühlenden Tochter des Hauses Erlösung. Erinnert mehr an „Phantom der Oper“? Geschenkt.
Das von den neuen Hausbewohnern nicht gefürchtete, ja sogar ignorierte Gespenst ist beleidigt, denn es sieht sich als Künstler und muss erkennen, dass Amerikaner keine Ehrfurcht haben. Nicht vor den Künsten und nicht mal vor einem Gespenst. Es ist bei Lichte betrachtet auch eine Metapher auf diesen Umgang mit neuer Oper.
Der Texaner Matthew Trevino gestaltet aber eine schöne Basspartie und endet als „Canterville Ghost“ dort, wo er eine lange Stunde zuvor schon einmal saß, auf einem Friedhof. Sein Grabmal dort wird von der Erlöserin Virginia besucht, die Jennifer Porto sehr reizend für Auge und Ohr dargestellt hat. Nur ihr Ehemann fragt sich (und bleibt ohne Antwort) woher denn nun das gemeinsame Kind eigentlich stammt. Das war denn auch schon der größte Spaß an diesem Wagnis, das im Gegensatz zu sonstigen Uraufführungen die Risiken auf einer ganz anderen Seite barg.
Wie gut eine „Canterville“-Adaption aber zu Leoncavallos „Pagliacci“ gepasst hätte, liegt auf der Hand. Denn auch hier verschmelzen die Emotionen des wirklichen Lebens mit falsch verstandenem Künstlerdasein. Und auch hier geht es um Leben und Tod. Nur ist eben hier die aufwühlende Geschichte auch in die Noten gesetzt. Und die werden vom Gewandhausorchester auch ganz großartig zum Klingen gebracht, zwar nicht immer ganz takt- und bei einigen Bläsern auch nicht ansatz-genau, aber in einer Italianità-bereinigten Blüte, die uns dennoch an den von Bühne und Kostümen nun behaupteten Neorealismus der 1950er Jahre glauben lässt.
Der Pagliacci von Raymond Very kommt als tapsiger Chaplin-Verschnitt und wird als in seiner Liebe betrogener Canio nicht nur zum Mörder, sondern opfert sich schließlich selbst. In seiner Stimme hat der Tenor den ganzen Zauber seines Fachs, liefert selbst unverzichtbaren Schmelz noch mit berückender Strahlkraft ab. Seine Nedda, die seine nicht mehr ist, wird von einer überragenden Marika Schönberg gesungen. Auch sie zeigt in dieser Partie eine Vielseitigkeit, kann Stärke ebenso wie zarteste Emotion und Enttäuschung zum Ausdruck bringen. Ihr Liebhaber Silvio, der nicht überzeugend genug zur lebensrettenden Flucht drängt, ist mit Jonathan Michie besetzt. Ein anrührender Bariton, der schon in „Canterville“ als nobler Hausherr überzeugte. Spielfreudig und beweglich in seinen tenoralen Stimmbändern belustigt der Arlecchino von Dan Karlström durch die Szenerie, die vom Kalifornier Anooshah Golesorki als liebestoller Tonio mit düsterer, Furcht erregender Tiefe versehen wird. Als vor dem Schlossgespenst warnender Canterville gab er sich noch sehr despektierlich.
Die Verbindung dieser beiden Werke ist gewiss gut gedacht, funktioniert mit dem so divergierenden Material aber nur sehr eng begrenzt. Moderne, die keine ist, trifft auf ein Italien, das es so nicht mehr gibt. Musikalisch ist wenig zu nörgeln, auch nicht am disziplinierten Chor, dem eine Spur mehr an Beweglichkeit anstünde. Aber ein Haus, das einst für seinen Mut zu Uraufführungen stand, darf ruhig etwas mehr Zutrauen zum wirklich Neuen aufbringen.
Termine: 14.5, 14. und 25.6.2015