Verglichen mit anderen Festivals zeichnet die Pfingstwerkstatt Neue Musik in Rheinsberg (künstlerische Leitung: Ulrike Liedtke) eine Besonderheit aus: Sie kümmert sich um den komponie-renden und musizierenden Nachwuchs. Was wiederum nicht verwundert, wenn man weiß, dass der Veranstalter die Musikakademie Rheinsberg ist, die erste Einrichtung in den Neuen Bundesländern, die der Deutsche Musikrat 1992 in seinen Arbeitskreis Musikalische Bildungsstätten aufgenommen hat.
Im Kavalierhaus des malerischen Rheinsberger Schlosses am Grienericksee und seinem 2000 wiedereröffneten Schlosstheater, rund 100 Kilometer nördlich von Berlin, finden junge Musiker inzwischen beste Arbeitsbedingungen vor. Bei der diesjährigen Werkstatt etwa gaben die drei jungen Cellisten Augustin Maurs, Leonhard Straumer und Matias de Oliveira Pinto ein beachtliches Cello-Solo-Recital. Makiko Nishikaze, Stipendiatin des Künstlerinnenprogramms, stellte ihr hier entstandenes Konzert für Soloklavier „olchald-piano“ vor. Und am Pfingstsonntag Vormittag zeigten Studenten der Kompositionsklassen von Ernst Helmut Flammer und Lothar Voigtländer an der Dresdener Musikhochschule mit fünf Uraufführungen, dass sie nicht nur von ihrem Handwerk bereits einiges verstehen. Interessanterweise kamen die originellsten Arbeiten von den Frauen: von der Südkoreanerin Jae Eui Rim mit „Verführung für Klavier“ und von den Sloweninnen Nina Šenk und vor allem Nana Forte. Die Musik für Flöte und Violine „Auseinander – Durcheinander“ der erst 25-Jährigen bezauberte durch musikantische Virtuosität, Witz und einen schier unerschöpflichen Einfallsreichtum. Doch die Pfingstwerkstatt ist nicht nur ein Podium für den Nachwuchs, sondern ebenso für professionelle Ensembles und Uraufführungen gestandener Komponisten. Eine regelrechte Entdeckung war das Ensemble „MO ENS. Spezialensemble Neue Musik Prag“, dessen Interpretationen durch ungewöhnliche klangliche Sensibilität und zugleich Präsenz beeindruckten. Überraschend hier besonders die Komposition von Hanuš BartoÁs (Jg. 1960) Verstreichen der Zeit“ und Miroslav Pudláks (Jg. 1961) „ökologische Musik“ „OM-Age“, weil sie zeigten, wieviel mehr an romantischem Geist und Gestus jüngere tschechische Komponisten wertschätzen als ihre etwa gleichaltrigen deutschen Kollegen, an diesem Abend Annette Schlünz, Juliane Klein und Michael Hirsch. Höhepunkte der diesjährigen Pfingstwerkstatt aber waren zweifellos zwei Uraufführun-gen zweier Berliner Komponisten: das 2. Klavierkonzert von Hermann Keller und das Ballett in drei Bildern „Das Goldene Kalb“ von Helmut Zapf, Ulrike Liedtke (Libretto), Bettina Owczarek (Choreographie, Bühnenbild: Wiebke Horn), beides Auftragswerke der Musikakademie. Was hier besonders faszinierte, war, wie sich diese alttestamentarische Geschichte in eine gegenwärtige verwandelt, indem sie die Folgen der einseitigen Verehrung des Goldes vorführt.
Erzählt wird sie aus der Perspektive von Moses und Aarons Schwester Mirjam, die allerdings deutlicher durch alle drei Bilder hätte geführt werden müssen, um ihre Funktion zu verstehen. Nichtsdestotrotz überzeugten die drei Teile „Das Goldene Kalb“, „Chimäre“ und „Pegasus“ durch ausdrucksstarke Klangbilder des Marschierens, der Ekstase, der Zerstörung und Illusion, deren abstrakten Realismus Bettina Owczarek in quasi handlungslose Bewegungsbilder transformierte: Das die Wüste gemeinsam durchquerende, einhellig das Goldene Kalb anbetende – etwas schwach die Symbolisierung durch einen Lichtkegel – und sich in seinen Trugbildern verstrickende Volk endet als arrogante Individualisten. Auf dem Jahrmarkt der Eitelkeiten zerbricht die Liebe, erstickt das Selbstbewusstsein, wird Freude sinnlos. Ausgezeichnete Sachwalter der Uraufführung waren das ensemble mosaik unter Leitung von Arno Waschk und die Dance Company Bettina Owczarek. Einziger Kritikpunkt: Die Choreographie erschien mit ihren artistischen und auf Tempo zielenden Elementen manchmal so überpräsent, dass sie die Musik überlagerte. Hermann Kellers 2. Klavierkonzert für 18 Instrumentalisten, präparierten und normalen Flügel faszinierte durch klangliche Eigenwilligkeit und gestalterische Prägnanz. In unvermittelten Kontrasten und klar konturierten Gestalten pulsiert das Unabgegoltene gegenwärtiger Widersprüche: in Klanggesten von größter Zartheit und Gewalt, Leichtigkeit und Schwere, Entfesselung und Ruhe. Ausgehend von gleichsam schwerelosen, farbigen Rhythmus-Texturen am klanglich sehr apart präparierten Flügel – für Keller historisch altes Material – landet er am „Zivilisationsinstrument Flügel“, die Klassik fast überspringend, in wilden improvisatorischen Eskalationen – und schließlich im „Abgesang“ mit Geräuschen der Zerstörung. „Klangliche Exzesse“, so sagte er im Gespräch, „die wir auf andere Weise leider in der Gegenwart erleben“. Mit dem Ensemble Phonophobie aus Freiburg – auch das eine interpretatorische Entdeckung – und dem Komponisten an den Flügeln war unter Leitung von Manuel Nawri eine durchweg gelungene Uraufführung zu erleben.