Es wirkt wie ein Masterplan: Der Leipziger Opernchef Ulf Schirmer wird zum Finale seiner Intendanten-Jahre 2022 dem Haus ein komplettes Wagner-Paket hinterlassen. Im XXL Format und mit Festspielschleifchen drum. Das ist Stadttheater mit weltweitem Vermarktungseifer. Und selbst ein wenig so größenwahnsinnig wie der „schnupfende Gnom aus Sachsen mit dem Bombentalent und dem schäbigen Charakter“ wie Thomas Mann den Leipziger Richard Wagner so hassliebevoll beschrieb. Also nicht nur den Bayreuther Zehner-Kanon vom „Fliegenden Holländer“ bis zum „Parsifal“. Auch die Frühwerke. Zum Wagnerissimo-Rekord fehlen jetzt, nach dem Holländer-Landgang, noch die geplanten Neuinszenierungen von „Lohengrin“, „Tristan und Isolde“ und der „Meistersinger“ bis 2021. Joachim Lange war an Bord.
Zum optischen Markenzeichen für den neuen „Fliegenden Holländer“ dürfte der Dreimaster werden, der im dritten Akt nach der Pause (!) von seiner Geisterbesatzung flott gemacht wird, um mit geblähten roten Segeln direkt Kurs aufs Publikum zu nehmen. Er stoppt erst, als dessen Bugspriet schon über den Köpfen in der siebenten Parkettreihe schwebt und die Lunten an den Kanonen schon brennen. Ein mit Szenenapplaus begrüßter Hunderttausend-Euro-Coup, den der Freundeskreis der Oper großzügig spendiert und die Technik des Hauses (unter Leitung von Oliver Gerds) perfekt realisiert hat. Dass es für Johnny Depp als lebenden Gruß, pardon: Fluch der Karibik dann nicht mehr gelangt hat, war zu verschmerzen. Musicalkompatibel ist der Dreimaster jedenfalls.
Als Bühnenbildner kann sich der Holländer Michiel Dijkema damit wiederum ein spektakuläres Großobjekt auf der Habenseite verbuchen. (Sein voriges war das auf Hühnerbeinen gehende Hexenhaus in der „Rusalka“.) Vor dem Kahn verblassen die gestrandeten, auch schon gewaltigen, bis zu acht Meter langen Pottwale regelrecht. Die trugen im ersten Akt – nicht ganz so logisch – den Schatz des Geisterfahrers in ihrem Inneren.
Als Regisseur müsste Dijkema diesen „Holländer“ eher auf der anderen Seite der Bilanz verbuchen. Mit der Grundidee hat er zwar Kurs auf Wagner und dabei dessen literarische Quelle, Heinrich Heines „Aus den Memoiren des Herrn von Schnabelewopski“, ins Visier genommen und die häppchenweise ausgiebig auf segelartige Hintergrundprospekte zum Mitlesen projiziert. Was dann aber davor abläuft ist nicht mehr als eine betont altertümliche Illustration. Motto: nur nicht mit Gegenwartsbezügen verschrecken! Mag sein, dass das dem Haus ganz recht war, nach dem Wirbel, den die Vorgängerinszenierung von Michael von zur Mühlen 2008 verursacht hatte.
Also: das große Opern-Märchenbuch aufschlagen und eine alte Geschichte so erzählen, dass sie möglichst auch so aussieht! Dabei fängt alles mit einem spannenden Effekt an. Da simuliert nämlich die Bühnentechnik aus Scheinwerferbatterien von hinten und von oben, mit Drehbühne und Hubpodien, den Seegang und das Wellenwogen, das man aus dem Graben hört. Doch dann übernehmen die Kostüme von Jula Reindell die optische Herrschaft und schlagen gnadenlos zu. Wie verunglückte Secondhand-Meistersinger von anno dunnemals kommen Daland und der Holländer angestapft. Und beim Rest der Truppe sieht es auch nicht besser aus. Außenseiter? Aufbegehren? Sehnsucht? Druck der Gesellschaft? Oder auch nur das Knistern bei einer Begegnung zwischen zwei seltsamerweise auf einander abfahrenden Liebenden? Nichts von alledem. Hier wird nur im Geiste umgeblättert und auf der Bühne meist beziehungslos rumgestanden. Oder beim Seemannschor und den Spinnerinnen bei Frau Mary unter einer imposanten Riesenspinnmaschine gewuselt und gewimmelt.
Als Gäste führen Christiane Libor als Senta und Iain Paterson als Holländer das Protagonistenensemble mit nobel vokaler Pracht an, während Randall Jakobsh einen soliden Daland beisteuert. Gehört es noch zu den Prämissen der Geschichte, dass Senta auf das Bild des Holländers fixiert ist, das nur sie sieht, so bleibt es in dieser Inszenierung ein Rätsel, wieso sie mit diesem Typen dann mir nichts dir nichts ins Bett steigt. Auch Eriks (mit intensivem Schmelz: Ladislav Elgr) Bemühen um Senta, ist eher eine vokale als szenische Aktion. Dan Karlström ist als Steuermann mit einer Partnerin versehen, die ihn mit Apfelsinenschalen bewirft, so wie es im eingeblendeten Heine-Text vorkommt. Warum Frau Mary (solide: Karin Lovelius) eine Augenklappe trägt, das bleibt ihr Geheimnis.
Am Pult des Gewandhausorchesters ist der Abend Chefsache. Ulf Schirmer lässt es auch mal richtig knallen und zelebriert genüsslich einen breit wogenden musikalischen Seegang – Tendenz: im Zweifel laut und langsam.
Am Ende mischten sich ein paar Buhs unter den Jubel der Leipziger.