Ein Operntreppenwitz des 21. Jahrhunderts: wie vordem noch nicht erlebt, stehen vor dem Eingang zur Werkstatt des Schillertheaters ungewöhnlich viele Verkäufer, die Karten für die Premiere anbieten. Sie hatten gedacht, im Vorfeld ein besonderes Verkaufsschnäppchen zu machen, da nie zuvor „Lohengrin“-Karten so preisgünstig zu bekommen waren – und da auf Wagner doch so ein Run ist. Dasselbe könnte den Schwarzmarkthändlern in einer Woche bei „Macbeth“ passieren. Offenbar hatten sie den kleingedruckten Namen des Komponisten übersehen: Salvatore Sciarrino.
Der 1947 geborene italienische Komponist steht dieses Jahr mit zwei Opern und mit seiner Kammermusik im Mittelpunkt des Festivals „INFEKTION!“, mit dem die Berliner Staatsoper bereits zum vierten Mal ein geballtes Programm mit neuen Beiträgen des Musiktheaters anbietet.
Die Eröffnung machte Sciarrinos „Lohengrin“. Diese „Azione invisibile per solista, stromenti e voci“ aus dem Jahre 1982 ist viel inszeniert worden, selbst an kleineren Theatern. So stand sie in dieser Saison beispielsweise auch am Landestheater Coburg auf dem Programm, wo Wagners und Sciarrinos „Lohengrin" im Doppelpack angeboten wurden.
Das Libretto zu Sciarrinos Oper basiert auf Jules Laforgues „Lohengrin, fils de Parsifal“ im Band „Moralités légendaires“. Diese Parodie aus dem Jahre 1886 wurde vom Komponisten deriviert, indem Sciarrino alles Satirische, Frivole und die zahlreichen Querbezüge der Vorlage eliminierte. In Sciarrinos „Lohengrin“ verlässt der Schwanenritter Elsa nicht wegen ihres Übertretens des Frageverbots, sondern da er unfähig ist, sich mit dem minderjährigen Mädchen in der Hochzeitsnacht zu vereinen. Dies löst bei Elsa ein lebenslanges Trauma aus.
Wagners Prinzip der inneren „Handlung“ von „Tristan und Isolde“ hat Sciarrino weiter ausgebaut: seine „unsichtbare Handlung“ ist abgehoben von der Realität, sie findet als Momentaufnahme im Kopf der Protagonistin statt.
Obgleich ursprünglich für eine Schauspielerin konzipiert, wurde die monodrame Solopartie der Elsa bei Aufführungen zumeist von Sängerinnen interpretiert – kein Wunder angesichts des enormen Schwierigkeitsgrades der Abfolge von Wortfetzen und Seufzern, von schmatzenden, gurgelnden und schnarchenden Geräuschen.
In Berlin, wo der Komponist im Jahre 1983 seine erste Fassung dieser Oper, die zunächst als Melodram konzipiert war, dirigiert hat, wird die Partie jetzt von Ursina Lardi interpretiert. Die vielfach für Filmrollen ausgezeichnete Schweizer Schauspielerin, Ensemblemitglied der Schaubühne am Lehniner Platz, springt in dieser Partie merklich über den eigenen Schatten. Die Intensität, mit der sie, wie aus einer inneren Rückschau, das Psychogramm der von ihrem Partner enttäuschten jungen Frau tiefgründig verkörpert, ist faszinierend. Vor allem aber ist ihre mnemotechnische Leistung zu bewundern, denn merklich hat die Lardi Sciarrinos komplette Partitur im Kopf. Angefangen vom Wechselklangspiel mit dem Fagott, entwickelt sie Natur- und Körpergeräusche – mikroportverstärkt – im italienischen Original, rülpsend und glucksend, bisweilen geradezu mit einer Bauchrednerstimme verinnerlicht.
In der Inszenierung von Ingo Kerkhof schläft Elsas blonder Partner Lohengrin zunächst reglos, isst nach seinem Erwachen mit Adiaphorie ein Butterbrot, sucht das Bad auf und legt sich wieder schlafen.
Elsa beginnt ihren Rückblick auf einer Metaebene: an dem ansonsten leeren Souffleusentisch setzt sie, noch vor dem ersten Musikeinsatz, ein paar Sätze aus der Partitur vom Ende an den Anfang.
Die dem jungen Ehepaar vom Kultusministerium zur Verfügung gestellte Hochzeitsvilla – wie der Raum im Libretto des Komponisten definiert wird – ist in Stephan von Wedels Ausstattung ein mediokres Hotelzimmer mit Nasszelle. Hinter einer raumhoch weißen Gardine erscheinen im Fensterausschnitt Projektionen innerer Bilder der Protagonistin: in der ersten Szene Elsa von hinten, in den nachfolgenden drei Szenen am Baum wehende Blätter (in Schwarzweiß), das menschenleer unberührte Zimmer und schließlich Elsa von vorne (Video: Philipp Ludwig Stangl).
Aus dem Off singen die instrumental eingesetzten Herren des Staatsopernchors, und hinter einem schwarzen Gazeschleier auf der Breitseite der Empore spielen knapp zwanzig Mitglieder der Staatskapelle Berlin. Dirigent ist der italienische Musikologe, Ausgräber und in Berlin auch als Dozent tätige Michele Rovetta, der die Stilisierung, die radikale Reduktion der Klangereignisse, immer wieder bis an der Unhörbarkeitsgrenze führt.
Ungeteilte Begeisterung im Publikum, Ovationen für alle Beteiligten und den Komponisten.
- Weitere Aufführungen: 16., 18, 19., 21., 22. Juni 2014.