Vor allem dank des jahrzehntelangen Festspieleifers gibt es kaum noch Aufführungslücken bei den Opern und Oratorien Georg Friedrich Händels. Sein „Lotario“ gehört gleichwohl zu den bislang stiefmütterlich behandelten Werken. Nachdem die kleinsten und jüngsten der drei deutschen Festspiele in Karlsruhe sich 2006 den Ruhm an die Fahnen heften konnten, die in dem Falle fast 300jährige szenische Rezeptionspause der 1729 uraufgeführten Oper in Deutschland beendet zu haben, zogen jetzt die ältesten Händelfestspiele in Göttingen nach.
Das akribische Aufführungsverzeichnis des Halleschen Händelhauses weist lediglich magere 7 Folgeproduktionen aus. Die zwei Jahrhunderte währende Unterbrechung der Händel-Rezeption fordert eben bis heute ihren Tribut. Man könnte auch sagen: sie bietet die Chance für Beinahe-Entdeckungen.
Mit dem Dreiakter „Lotario“ wollte Händel seinem kriselnden Opernunternehmen wieder zu neuem Leben verhelfen. Genützt hat es ihm nichts. Vielleicht bekamen die verwöhnten Londoner auch nicht die Stars vorgesetzt, die sie wollten.
Händel ist auch im „Lotario“ auf der Höhe seines Könnens, hält im (zeitüblich) verwickelten Plot die Spannung, bietet reichlich Steilvorlagen, um den Gurgeln auf der Bühne und den Ohren im Saal zu schmeicheln, wechselt souverän zwischen ausgebreitetem Gefühl und Bravour für den Ehrgeiz der Bösen und den Widerstand der Guten im Stück. Inklusive der Sahnehäubchen von Musterexemplaren seiner raren, sich wunderbar zärtlich verschlingenden Duette – hier zwischen dem Titelhelden und seiner bedrängten Adelaide. Dass ausgerechnet ein deutscher König als Retter und Traum-Mann für eine in Bedrängnis geraten Witwe auftritt und am Ende siegt – das muss auch damals schon was Pikantes gehabt haben.
Unter der Ägide der Festivalchefs Tobias Wolff und Laurence Cummings haben die Göttinger Händelfestpiele in den letzten Jahren immer zwischen einer bewusst historisierenden und einer eher modernisierenden Inszenierungsästhetik gewechselt. Dem mit dem Göttinger Deutschen Theater vertrauten Regisseur Carlos Wagner gelingt diesmal zusammen mit Rifail Ajdarpasic (Bühne), Ariane Isabell Unfried (Kostüme) und Guido Petzold (Licht) eine Melange, die von beiden Zugängen profitiert. Es ist eine ausgestellte und opulente Dekonstruktion des großformatigen Handlungsrahmens. Der Raum assoziiert eine üppig ausgestattete Staatsgalerie, in der die Abteilung mit den Katastrophen-Ölschinken möglicherweise gerade restauriert wird. Ein Podest und die aufgestellten Gerüste stehen vielleicht aber auch selbst für den Versuch der Mächtigen, einen Regimewechsel zu bewerkstelligen. Das bleibt ebenso in der Schwebe wie die Kostüme, die mit der Anmutung verlotterter barocker Pracht spielen. Damit bezieht auch das perfekt durchinszenierte Kammerspiel, das sich zwischen den Akteuren entspinnt, seine Spannung aus der zeitlichen Unbestimmtheit des Exemplarischen.
Die Wände mit den Gemälden und den Gerüsten davor, die Decke mit verglastem Oberlicht und den vergoldeten Stuckelementen sind im Einzelnen als Kulissenelemente erkennbar und imaginieren doch suggestiv die gefährdete Opulenz der Macht und ihrer Insignien.
In Göttingen gibt’s schon zur Ouvertüre auf offener Szene einen Giftmord am König, der seine Frau Adelaide zur Witwe macht. Mit der Oberintrigantin Matilde (mit grandioser Bosheit: Ursula Hesse von den Steinen) und ihres lenkbaren Mannes Berengario (geschmeidig: Jorge Navarrao Colorado) sind die Schuldigen ausgemacht. Mit dem schwächelnden Müttersöhnchen Idelberto (mit einschmeichelnd sicherer Counterstimme: Jud Perry) und dem Dunkelmann im Priestergewand Clodomiro (markant und kraftvoll: Todd Boyce) ebenso die Mitwisser und Helfershelfer.
Der jungen Mezzosopranistin Sophie Rennert nutzt ihr Privileg als Titelheld und Retter der Bedrängten ebenso für ein faszinierendes Rollenporträt wie es Marie Lys gelingt, koloraturgespickte Größe zu beweisen. Sie wird von den Thronräubern vor die Wahl gestellt, sich selbst zu töten oder den Sohn zu heiraten. Am Ende siegen ihre Standhaftigkeit, vor allem aber ihr deutscher Traummann Lotario. Wie immer in der Oper gerade noch rechtzeitig, damit man ein lieto fine dran klatschen kann. Was der Regisseur natürlich – wie es sich für die kritische Nachwelt gehört – subtil unterläuft. Da wird nämlich von der begnadigten Matilde wieder ein Kelch Richtung Thron gereicht. Von den Zuschauern im Saal würde wohl keiner daraus trinken. Man kann hoffen, dass sich die Sieger in ihrer Großmut auch eine gesunde Portion Misstrauen bewahrt haben…
Im Laufe des Abends gelingen packende Porträts der Protagonisten, ganz gleich ob sie bei ihrem Grundcharakter bleiben oder auch eine Entwicklung durchmachen, wie etwa Berengario (bei der Frau kein Wunder) und Idelberto (der sich mit Mühe von der Mutter emanzipiert). Gelegentlich mischt Wagner unter die körper- und gestenbetonte Expressivität choreografierte Bewegungen der Hände, die mit den abgezirkelten Gesten des barocken Zeremoniells spielen. Das fahrbare Podest mit dem Sitzmöbel, um das es allen geht, die Gerüste auf die man klettern und an die man (zum Aktende) die jeweils Gefangenen dekorativ fesseln kann, oder die einmal bis an die Rampe fahrende Rückwand – all das schafft variable Atmosphäre für das Kammerspiel in der Versuchsanordnung eines Labors. Dazu kommt eine geniale Lichtregie. Einmal berät sich Lotario mit sich selbst beim Blick in den Spiegel. Wie der, also sein Innerstes, ihn dabei ins Gegenlicht setzt, das ist ein geradezu verblüffender Coup!
Laurence Cummings und sein Spezialorchester (das jedes Jahr auf Zeit in Göttingen zusammenkommt) liefern die Spannung im Graben auch dann, wenn mal zwei Arienperlen zu überbrücken sind. Festspielgemäß wird nicht viel gestrichen, so dass der Abend mit zwei Pausen auf stattliche vier Bruttostunden kommt. Was in der Festspielstadt sicher unproblematischer ist, als im koproduzierenden Theater Bern. Dort wird Cummings diesen „Lotario“ dann mit dem dortigen Orchester einziehen lassen. In Göttingen jedenfalls war der Jubel für alle groß und ungeteilt.