Über den Zustand der Oper oder besser des Musiktheaters heute wird an allen Orten diskutiert. Krisensymptome werden wahrgenommen, Lösungen freilich scheinen fern. Was geht noch, was geht nicht mehr, wo sind Perspektiven? Oft schleppen die Antworten Bürden von argumentativer Last. Dass es auch einfacher, eine Stufe niedriger gehängt geht und dass dabei trotzdem nichts flach Dümmliches sich ereignen muss, das bewies das Musiktheaterstück „Der Wilhelmine-Code“ in Erlangen.
Wer nach gut zweieinhalb Stunden das dortige Markgrafentheater verließ, musste sicherlich schmunzeln. Bei
biografischen Opern geht die Gegenwart ja wirklich an Sättigungsgrenzen. Ob Einstein oder der Elefantenmensch, ob Stalin oder Nixon, ob Rilke, Hölderlin, Majakowski oder doch lieber Oswald von Wolkenstein, all dies in Mischung aus Größe und Allzumenschlichem wurde in Opernform gepresst. Und oft genug scheiterte man, weil allzu sehr der romantische Gestus des großen Missverständnisses zwischen den Praktiken der Masse und der Einsamkeit des Genies in verzweifelten Ausdrucksballast gegossen wurde. Und der Lebenslauf der Prinzessin Wilhelmine von Preußen, vor 300 Jahren geboren und immerhin die Schwester von Friedrich dem Großen, die nach Kalkül der Eltern in die Provinz nach Bayreuth abgeschoben wurde, hätte genug Stoff geboten, um in ähnliche Kerben zu hauen.
Da aber wollte das Team in Erlangen, der Komponist Michael E. Bauer, der Texter Constantin von Castenstein und die Regisseurin Lilli-Hannah Hoepner gar nicht erst mitmachen. Stoff hatte man genug. Wilhelmine komponierte, brachte es sogar auf eine Oper mit dem Titel „Argenore“, sie debattierte mit Voltaire, sie umgab sich, was Frauen in solch abgeschobenen Positionen immer gerne machen, mit dem Prunk teurer Schmuckgegenstände, die mit der Bayreuther Eremitage und dem wunderschönen Markgräflichen Opernhaus am gleichen Ort die Finanzdecke ihres Gatten oder besser der ansässigen Bevölkerung kollabieren ließ, und schließlich verfasste sie auch noch Memoiren, in denen sie ihre Abgeschiedenheit und das Unverständnis der Welt beklagt.
Doch zur Verklärung hatte man im Stück „Der Wilhelmine-Code“ keine Lust. Viel lieber knüpfte man an Traditionen des Singspiels an, an die „Beggar’s Opera“ von Pepusch an Pasticcios oder auch an Versuche von Brecht und Weill. Da wurde einfach alles, was interessant an Wilhelmine befunden wurde, mit leichter Hand auf die Bühne geworfen und zu einer munteren Collage verwoben. Der Zuschauer und -hörer sollte sich sein eigenes Bild machen. Selbst hatte man sich um Plastik, um ironische Spitzen, um groteske Wendungen und bewusste Übertreibungen bemüht.
Der recht kurze, noch musikalisch monochrom gehaltene erste Teil spielt im Berliner Hause des Soldatenkönigs Friedrich Wilhelm I., freilich gleicht die Wohnung eher einer Kaschemme des unteren Mittelstands, wo die Tochter fleißig lernt, weil sie es zu etwas bringen will, der Sohn poppig von seiner großen Zukunft träumt, der Vater lieber ins Wirtshaus und die Mutter lieber fremd geht. Im zweiten Teil, er spielt im Bayreuther Markgrafenland, wirbelt dann alles durcheinander. Bauer, er hat sein Handwerk in erster Linie beim Fassbinderkomponisten Peer Raben gelernt und legt auch bislang gar keinen großen Wert darauf, in den heiligen Hallen der Avantgarde Aufnahme zu finden, komponierte oder kompilierte Sequenzen aus Zitaten durch die ganze Musikgeschichte. Bach reicht Wilhelmine die Hand und Mozart guckt über die Schultern, bei den autobiographischen Reflektionen grundiert gewichtig Morton Feldman und Mauricio Kagels Verballhornungen von Märschen oder anderen Preziosen der Musikgeschichte, dienten gleichsam als Folie des musikalisch technischen Rüstzeugs. Dann klingt etwa eine Koloratur, die vielleicht einer Königin der Nacht angemessen wäre, eben wie die Koloratur einer übernächtigten Königin und die Oper Wilhelmines schrumpft zu einem Einminuten-Plot in dem letztlich jeder jedem den Garaus macht. Das alles aber ist mit versierter Hand und mit viel Gespür für theatergemäßes Timing gemacht, das Puzzle gerät nur selten in Regionen des bloß Beliebigen oder Zufälligen. Die absurden Sequenzen wissen, wann sie an ihre Reizgrenze gelangen und machen locker neuen Bildern und Worten Platz.
Ein Reigen formt sich, der Teamgedanke spielt dabei eine ganz maßgebliche Rolle. Die Musik lässt den gesprochenen Passagen Raum und sucht nirgendwo, deren Ausdruckslagen zu verdoppeln. Vielmehr entsteht ein gelöstes Miteinander, so als hätte jeder, stets bereit zum Eingreifen, von seiner Warte zum Thema Wilhelmine etwas beizutragen. Heraus kommt ein Mummenschanz unaufgeräumter Gefühle.
Dass der Besucher dies alles mit der Lust animierten Betrachtens verfolgt, dazu trugen auch die Mitwirkenden einen großen Anteil bei. Die vier Musiker – Schlagzeug, Klavier, Saxophon und Akkordeon bilden das zusammengestutzte Orchester – fungieren hin- und hergeschoben auch als Mitglieder des Hofstaats, in dem die Schauspielerin Georgia Stahl als Wilhelmine und die enorm wandlungsfähige Sängerin Cornelia Melián (Mutter, Chronistin, Maria Theresia) dem bunten Treiben immer wieder verkantete Spitzen aufsetzen. War Wilhelmine nun eine frühgeborene Feministin, eine in die Provinz geworfene Verzweifelte, eine Allround-Künstlerin, eine Visionärin, die dem Architekturwahn von Ludwig II. und Wagner den Boden vor Ort bereitete? Keine Antwort, aber, wie das bei einem Code eben so ist, viele Möglichkeiten. Und alles munter und ohne Verkrampfung.