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Foto: Bernd Uhlig
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In Hamburg überhebt sich Castellucci an Bachs Matthäus-Passion

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Wenn sich der Italiener Romeo Castellucci Johann Sebastian Bachs „Matthäus-Passion“ zuwendet, weckt das Erwartungen. Was religiös österliche Erbauung betrifft, sind die eher von düsterer oder bissig erhellender Art. Sein Stück „Über das Konzept des Angesichts bei Gottes Sohn“ bedurfte zumindest in Paris vor vier Jahren des polizeilichen Schutzes vor empörten Katholiken. In Berlin ging es dann ohne den Furor des Beleidigtseins über die Bühne.

In Hamburg zog er jetzt in die mit einer Tribüne für 1000 Gäste aufgerüstete Deichtorhalle. Die war weiß ausgeschlagen wie zu einer Vernissage. Musiker, Sänger, selbst die Helfer für die eigenartigen Kunst-Exerzitien stecken in weißen Anzügen. Das Licht bleibt an. Dieser überdimensionale White Cube bleibt gleichwohl über weite Strecken dennoch eine Black Box. An der Staatsoper selbst hätte Castelluccis „La Passione“ neben John Neumeiers, dort seit 1981 ungebrochen populärer Matthäus-Passion kaum ein Chance zu bestehen … 

Der Hamburger GMD Kent Nagano jedenfalls darf seine Hände zu Beginn im doppelten Wortsinn in Unschuld waschen. Zumal er gemeinsam mit dem Philharmonischen Staatsorchester, der Audi Jugendchorakademie, den Sopranistinnen Hayoung Lee und Christina Gansch, der Altistin Dorottya Láng, dem Tenor Bernhard Richter, dem Bass Philippe Sly (Jesus) und Ian Bostridge in der Rolle des Evangelisten den schlüssigeren Teil dieses fast dreistündigen pausenlosen Abends verantwortet. Auch wenn Bostridge bis an seine Grenzen gehen musste. Vor allem das dunkle Timbre von Philippe Sly und der Chor mit seinem Hellen Klang berührten durchweg. 

Formal ist es ein Theatervorgang, der für 18 Bilder (mit Titeln von „Imperium“, „Ammonium“, „Judas“ über „Ölberg“, „Krone“, „Grab“ bis hin zu „Testament“) Gegenstände oder Aktionen mit der Musik und ihren Aussagen in ein Verhältnis setzt. Illustrierend, assoziativ, banalisierend. Freilich ohne, dass sich zum Sog der kontemplativen Musik, den Nagano erzeugt und der sich gut ausgesteuert in der Riesenhalle ausbreitet, wirklich ein ästhetischer Sog eigenen Rechts entfalten würde. 

Jeder Zuschauer findet auf seinem Sitz ein Heftchen vor, das die gezeigten Gegenstände oder Aktionen mit naturwissenschaftlichen oder biographischen Angaben akribisch erläutert. Wenn der Verrat etwa mit dem Schädel eines Mörders und Selbstmörders illustriert wird, den man sich von der Rechtsmedizin ausgeliehen hat und zum Kapitel „Judas“ auf einer Säule präsentiert wird. Was Castellucci an Befragung Bachs aus dem Blickwinkel unserer säkularisierten Gegenwart wohl im Sinn hat wird klar, wenn zum „Abendmahl“ ein bescheidenes Abendbrot in einen Kühlschrank gestellt wird, dass von einem Hospitz-Patienten bereitet wurde, der am Karfreitag 2015 im Alter von 65 Jahren an einem Hirntumor verstorben ist. Diese Art von Kurzschluss zwischen der überlieferten Passionsgeschichte und der Wirklichkeit ist mitunter eher makaber als erhellend oder packend. So wie jener Mann, von dem wir im Kapitel Apostel erfahren, dass er bei einem Unfall seine Unterschenkel verlor. Wenn der mit einem vergoldeten zwei Meter langen Stab mit seinen Prothesen die Szene betritt, und dann ohne diese Hilfsmittel verlässt, ist das nicht mehr als voyeuristisch. Zur „Kreuzigung“ absolvieren 14 Statisten von 9 bis 83 Jahren ein Probehängen mit den Händen an einer Reckstange. Eine banale kollektive Turnübung kombiniert mit detaillierten medizinischen Erläuterungen über das physische Sterben am Kreuz. Hier ohne Verweis auf die realen Kreuzigungen, mit denen die Jünger des Kalifen derzeit ihr Crescendo der Barbarei ausschmücken. Bei der Vergoldung einer Dornenkrone aus Stacheldraht im Elektrolysebad funktioniert Castelluccis Bildertheater mehr, bei der Bluteisenbestimmung des Jesus-Sängers auf offener Szene eher weniger.

Mit dem vorbeigeschobenen umgekippten Reisebus oder dem Zerlegen einer 11 Meter hohen Waldkiefer auf offener Szene ist es mit ungleich höherem Aufwand auch nicht anders. Aus diesem Abend kommt Bach und die meisten Zuschauer vergleichsweise unbeschadet heraus. Romeo Castellucci aber hat sich diesmal in einer Bedeutungshuberei verfangen, die dem genialen Theatermacher keine echte Chance ließ.

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