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Eine mit einer Body-Korsett-Mischung und sonst schwarz bekleideten Frau mit fahlweißem Gesicht singt mit großer Geste und verteilt in einem sChwung einen Kreis aus Federn oder Flocken um sich herum.

Nicole Chevalier in der Titelrolle. © Tom Schulze

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Hochadeliges Hauen: Die Oper Leipzig recycled packend Musgraves „Mary, Queen of Scots“

Vorspann / Teaser

Nach der Uraufführung 1977 durch die Scottish Opera in Edinburgh war „Mary, Queen of Scots“ von Thea Musgrave etwa 15 Jahre lang so etwas wie ein Erfolgsstück, unter anderem am Theater Bielefeld. Jetzt wurde sie von der Oper Leipzig wiederentdeckt. Die inzwischen 95-jährige Komponistin schreibt gerade an ihrem nächsten Bühnenwerk „Orlando“ und scheute die Anreise zur Premiere aus New York. Der verdiente Erfolg für eine der spannendsten Produktionen der Oper Leipzig seit langem war einhellig.

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Wichtiges Ziel der Oper Leipzig in der Intendanz von Tobias Wolff sind Klimaneutralität und Ressourcenschonung. Nach über 20 Jahren Performance-Funkstille konnte man auch das Recycling dieser historischen Oper als Teil dieses Nachhaltigkeitskonzepts goutieren. Einen großen jubelnden Erfolg erntete die Premiere von „Mary, Queen of Scots“. Sie bestätigte wie Brett Deans „Hamlet“ in München, welche Wirkungs- und Ausstrahlungskraft das Genre der abendfüllenden Historien- und Literaturoper mit linearer Handlung auch im neueren Schaffen haben kann. Sie bewies aber auch, dass exzessives, enervierendes, eindringliches Musiktheater noch immer zum vereinzelten türenschlagenden Verlassen des Zuschauerraums motivieren kann. Am Ende feierte man dann fast einstimmig eine intensive, aufwühlende und spannende Aufführung, wie man sie in der Musikstadt lange vermissen musste.

 

Mehrere operative Glückskonstellationen trafen aufeinander: Der seit Jahren am Haus bekannte Dirigent Matthias Foremny und das Gewandhausorchester fanden in der überwiegend tonalen Partitur eine buntschillernde Aufgabe. Archaisierende Anleihen aus alt-britischer Tanzmusik, sparsame Strauss- und Wagner-Reminiszenzen und vor allem eine musikdramatische Schmiegsamkeit, welche das Leipziger Stammpublikum mit den manierlichen Modernismen Musgraves weitgehend versöhnte. Die zum Teil berückend schönen Klänge aus dem Orchestergraben traten in konspirative Hochspannung zum eisgrauen Bühnengeschehen.

Annette Brauns bewusst schwarz konturierten und weiß fließenden Stoffe machen den Deformierungsprozess einer Regentin von zart zu hart noch sinnfälliger. Dirk Beckers klimaneutrales Bühnenbild mit hölzernen Tischen auf den hochgefahrenen Podeststufen erwies sich für die Szenenfolge nach dem Schauspiel „Moray“ der peruanischen Autorin Amalia Elguera als ideal. „No future“ und „Stop Dreams“ steht auf den Overalls der Mary am Ende vom Thron stoßenden Hooligans.

Schließlich holte man mit Nicole Chevalier eine Spezialistin für lyrische Koloraturpartien der Extremitäten-Extraklasse. Sie bestätigte hier ihren Ruf als an die Grenzen gehende Darstellerin und Stimmschauspielerin. Chevalier hat auch den Mut zur unschönen Wahrhaftigkeit, spielt alle Episoden drastisch, bewegend und bezwingend aus: Einer der Höhepunkte ihrer Partie sind die handgreiflichen Macht-Streitigkeiten der hochschwangeren Mary mit ihrem Halbbruder James, dessen in schwierige Tenorlagen hochtreibenden Bariton-Part Franz-Xaver Schlecht hervorragend gestaltet. Rupert Charlesworth gibt Marys alkoholbetäubten Ehemann Darnley erst mit charmanter Virilität, später mit abstoßender Verletzlichkeit. Sejong Chang scheidet als gemeuchelter Liebesfrühling- und Liebestod-Sänger Riccio leider viel zu früh aus dem Geschehen. Weitere formidable Drahtzieher und Machtpoker-Figuren sind Guido Jentjens (Gordon), Randall Jakobsh (Cardinal Beaton), Richard Morrison (Morton) und Dan Karlström (Earl of Ruthven). Weil Sven Hjörleifsson als Mary vergewaltigender Bothwell kurzfristig ausfiel, sang Eberhard Francesco Lorenz von der Seite und die Regisseurin sprang selbst szenisch ein.

Mary trägt nach ihrem weißen Kleid den sie fast erdrückenden Königsmantel und am Ende – wie die Männer – einen korsettartigen Panzer. Lanzino hat mit Chevalier intensivst erarbeitet, dass Mary nicht nur Opfer ist und zum Teil selbst die zu ihrer Abdankung führende Ereignisspirale in Bewegung setzt. Dem Chor kommt in diesem mit harter Folgerichtigkeit sich vollziehenden Niedergang eine wichtige Aufgabe zu. Gerade bei der aus dem Parkett gesungenen Szene fällt die durch Thomas Eitler-de Lint betriebene Präzisionsarbeit und gekonnte Klangschärfe auf. Versöhnliche Inseln im hochadeligen Horrorstück baut vor allem die Musik, die von Lanzino wie Salz auf offene Wunden genutzt wird. Sie modelliert ihr Geschichtspanorama mit derartiger Härte, dass die wenigen zarten Momenten bestenfalls kurze Pausen im Hauen und Stechen sind.

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