Körper mit kritischer Masse haben die Wahl. Im Sog ihrer Schwerkraft kollabieren, dank übergroßer Fliehkraft explodieren. Oder die Balance halten wie „An index of metals“. Im erstarkten Essener Neue Musik-Festival „NOW!“ war die Video-Oper des 2004 verstorbenen italienischen Komponisten Fausto Romitelli ein Höhepunkt. Ersteindrücke als Laborbericht.
Das Entree denkbar einladend, niederschwellig. Eine Art vertrauensbildende Maßnahme. Nicht ohne komische Anteile. Slapstickhaft, stolpernd wie da die Versuchsanordnung „für Sopran, Ensemble, Multiprojektion und Elektronik“ mit Klangsplittern aus Pink Floyds Shine on you, crazy Diamond Fahrt aufzunehmen versuchte. Schürfen in den ergiebigeren Flözen von Rock und Pop. Eine Strategie, die sich bei Romitelli entschieden mit Raffinesse verbunden hat. Die Idee, gleich drei Fehlstarts einzubauen natürlich ein kalkulierter Jokus, konnte der Komponist mittels immer weiter geöffneter Kreuzblenden damit doch fast unbemerkt eigenes Material zumischen. Wie nach dem Zufallsprinzip mal dieses, dann jenes Instrument im Spotlicht. Ein Prinzip der aleatorischen Massenverteilung bei stetig zulegender Dynamik.
Wofür der ums Publikum gezogene Lautsprecherring recht hilfreiche Dienste tat. Ein Arrangement, das buchstäblich spüren ließ wie sich der crescendierende Großbogen dieser Video-Oper aufbaute, um nach dem letzten von vier Vokalteilen mit diversen introduzione, intermezzi, cadenze einen Peak zu erreichen, dessen Forte sich dann fast weniger übers Ohr als über den Solarplexus Einlass verschaffte. Sich förmlich reindrückte, muss man sagen. Ein Moment, in dem das intendiert Körperliche dieser Arbeit dort saß, wo es Romitelli hinhaben wollte. Ein Erfolg, der freilich viel zu tun hatte mit denjenigen, die diesen neu konzipierten „Hochofen einer rituellen Soundmesse“ (Romitelli) im RWE-Pavillon der Essener Philharmonie beschickt haben. Viel Lust im Spiel an den bis ins Detail ausgeschriebenen Romitelli-Linien beim erweiterten E-MEX-Ensemble. Dazu beim Dirigenten Christoph Maria Wagner wie bei Michael Pattmann, dem Soundingenieur an den Reglern die Sorge fürs gelingende Ganze. Letzterer pegelte im Forte weitgehend unter der Schmerzgrenze, im anfänglichen Piano knapp oberhalb der Hörschwelle.
So ging es hinein. Mit Mini-Entladungen wie beim Sommergewitter, das sich am Horizont ankündigt. Zu solcher Andeutung von Klang die Andeutung von Bild. Über dem elektronisch aufgerüsteten Ensemble erwachen drei Leinwände, zeigen kreisend-pastellfarbige Strukturen. Nichts Bedeutendes, aber auch nichts Störendes im Sinne der sonst so ubiquitären narzistisch vorgetragenen Alleinvertretungsansprüche. Klang und Licht, das konnte man merken, sollten sich für Romitelli verhalten wie das alte Opernideal einer Einheit von Musik und Szene. Darin vor allem ist Romitelli, bei aller Faszination für die Spektralästhetik eines Gérard Grisey und Hugh Dufour, doch ein ausgesprochen italienischer (Video)Opern-Komponist geblieben. Dass es ihm um Synästhesie ging, um eine, die das Publikum wesentlich mitdenkt, eine, die so hermetisch wie nötig, aber so offen wie möglich ist – dies spürte man. Und man hörte es insbesondere dann, wenn Romitelli die Stimme ins Spiel brachte. Da waren sie dann, die dramatischen Höhepunkte der Aufführung, wenn sich das ausgeleuchtete Gesicht von Julia Mihály vom Schwarz der Umgebung abhob. Was genau dann gesungen wurde, blieb textunverständlich. Aber es waren ohnehin nicht die Worte, vielmehr die Art, wie die Worte der kroatischen Poetin Kenka Lekovich im elektronisch gefilterten Sopran der Sängerin Julia Mihály Gestalt annahmen. Als hochangesetzte Linien, die Mihály im Nichts vermurmeln ließ, von neuem anfasste, nur um sie wieder fallen zu lassen, mitunter, bei größter Nähe zum Mikrofon, rauchig in den Orkus schickte. Ausgesprochen faszinierende Momente, in denen man unwillkürlich ein noch ganz ungehobenes Potential der kritischen Masseverbindung aus Klassischem und Nicht-Klassischem herauszuhören meinte.
Letzteres hat Fausto Romitelli mit der Körperlichkeit verbunden. Und mit dem, was noch nicht in der Mühle der „Normierungsprozesse“ gelandet und damit entwertet worden ist. Erkennbar damit bei ihm eine emanzipatorische Tendenz, in die sich auch die Video-Bilder von Paolo Pachini und Leonardo Romolo fügten. Tanzende Quecksilbertropfen auf metallischen Oberflächen, Material unter Korrosionsdruck, aufgerissen von Schweißfurchen. Wofür Romitelli nach der Klangseite den Großkosmos Rock ziemlich gründlich abgescannt hat auf der Suche vor allem nach den verzerrten, nach den angeschmutzten Schnarrsounds von E-Gitarre und E-Bass, die er wohl besonders ins Herz geschlossen hat. Am Ende war es an E-MEX, diese in einer den Punk heraufbeschwörenden trashigen Kadenz zu einer Geräuschskulptur zu schichten und mit Bildern rotierenden Plastikmülls zu verquirrlen. – Kein Weg von hier zur Konfektion.