Beschreibungen neuer Musik, insbesondere des Hörens, verwenden gerne Wander- und Reisemetaphern. Man spricht von „Klanglandschaften“, durch die man sich hörend bewegt, je nach Dichte und Energetik der Musik wahlweise tastend, hastend, stürzend oder schwebend. Stockhausen erweiterte die Reisemetapher vorzugsweise ins Aero- oder gar Kosmonautische, indem er dem Publikum „Einen guten Flug!“ wünschte und seine Klavierstücke als „kleine musikalische Raumschiffe und Zeitmaschinen“ bezeichnete, bei denen Spieler wie Hörer unbekannte zeitliche und räumliche Erfahrungen machen können.
Jeden Moment kann der Klangfluss seine Richtung ändern. Selbst kanonisierte Werke der Tradition überraschen mit unvermuteten Wendungen. Musikhören wird zum „Abenteuer“. In neuer Musik kann jedem Ton jeder Zeit jeder andere folgen. Auch Bewegungen von Klängen im Raum sind möglich. Musik ist flexibel, fließend, ein permanenter Wandel in Zeit, Raum und Medien. Alles an dieser flüchtigen Kunstform ist bewegt und bewegend – wie das Reisen: unsere Wahrnehmung öffnend, Sichtweisen verändernd, Horizonte erweiternd.
Nachdem wir im Sommer vielleicht eine große oder kleine Reise unternommen haben, begeben wir uns jetzt wieder auf die Wanderschaft durch Konzertsäle und Musikfestivals. Sofern nicht neuerliche Corona-Auflagen dazwischenkommen, gibt es im September zahlreiche Uraufführungen neuer Werke, von denen einige das Publikum durch ungewohnte Gefilde zu führen versprechen. Beim Musikfest Berlin erklingt am 1. September erstmalig Cathy Millikens „Night Shift – The Rehearsal“, ein „Partizipationsprojekt für Ensemble, Dirigent:in, Chor und Publikum“. Außerdem bietet das Musikfest Novitäten von Wolfgang Rihm, Jörg Widmann, Anne Cleare und Johannes Kalitzke. Bei der Ruhrtriennale verspricht am 2. September in der Kraftzentrale des Landschaftsparks Duisburg-Nord die Premiere von Michael Wertmüllers „D·I·E“ einen „Ort der unaufhaltsamen Transformation, ein Multiversum, das alle Sinne in Aufruhr hält“. Dieselbe Riesenhalle ist dann am 16. September auch Schauplatz für Fritz Hausers „Point Line Area“, ein „Perkussionsritual für alle Sinne, in dem 64 Musiker:innen eine autonome Hörbarkeit erhalten und sich gleichzeitig im Ensembleklang auflösen“.
Die Klangspuren Schwaz in Tirol präsentieren ab dem 10. September die Uraufführungen von Jorge Sánchez-Chiongs „Caminando“, ferner Gerhard E. Winklers „Transitions“ für westliches und arabisches Instrumentalensemble und Elektronik sowie Wolfgang Mitterers „Bridges“. Weitere neue Werke stammen von Thomas Gorbach, Peter Jakober, Hossam Mahmoud, Antonia Manhartsberger, Wolfgang Schurig, Bruno Stobl und Michael Wertmüller. Am 11. September eröffnet in Utrecht die Premiere von Richard Ayres’ „aquarium“ womöglich neue Sicht- und Hörweisen auf Unterwasserwelten. Und am 23. September weist schließlich im Leipziger Gewandhaus Jörg Widmanns uraufgeführtes „Towards Paradise (Labyrinth VI)“ den Weg aller Wege, wahlweise zurück oder voraus in die ewige Glückseligkeit oder zu endloser Irrfahrt und Verderbnis in der Höhle des Minotaurus. Gute Reise wünscht …
Weitere Uraufführungen (unter Vorbehalt):
02.09.: Vassos Nicolaou, Feuer für Violoncello und Live-Elektronik, Beethovenfest Bonn
03.09.: Chen Chengwen/Tobias Klich, 4 Hände, szenische Komposition im Dialog mit Platons „Symposion“, Sendesaal Bremen; Karl Gottfried Brunotte, tri… (clausula salvatoris) für einen agierenden Schlagzeuger […], Live-Elektronik, Kulturbahnhof Bad Homburg
06.09.: Iris Szeghy, Offertorium für Sopran und Orchester, KKL Luzern
12.09.: Noriko Kawakami, neues Werk für Trio Omphalos, Maria-Magdalenen-Kirche Lauenburg
19.09.: Nicolas Tzortzis, Gravitationnel, hommage à Karl Schwarzschild, Kestnergesellschaft Hannover
25.09.: Rolf Wallin, Prillar für zwei norwegische Luren und Streichorchester, Global Trumpets Festival, Folkwang-Universität der Künste Essen; Philipp Maintz, choralvorspiel XXXII, Kunst-Station Sankt Peter Köln
28.09.: Zeynep Gedizlioglu, Iris ter Schiphorst, Wolfgang Mitterer, Fabio Nieder, Hilfe! Undine geht, Taschen–opern Salzburg