Im September 2016 eröffnete die Alte Oper Frankfurt im Mozart-Saal ihre neu begründete „Weltmusik“-Reihe mit einem Gastspiel des afghanischen-deutschen Ensembles „Safar“. Die Gruppe war Teil der hoffnungsvollen Initiativen zur Wiederbelebung des afghanischen Musiklebens nach dem Ende des ersten Taliban-Regimes. Im August 2021 kamen die Taliban erneut an die Macht. Wieder verbieten sie nun Musik, zerstören Musikinstrumente und verfolgen Musikausübende. Ein unerwarteter Hoffnungsschimmer in diesem dunklen November war nun beim Abend „Afghanische Musikwelten im Exil“ in der Alten Oper zu spüren.
Angesichts der bestürzenden Meldungen nach dem Abzug der internationalen Truppen aus Afghanistan war das Frankfurter Gastspiel des ANIM Ensembles für traditionelle Musik und des ANIM Chamber Ensembles alles andere als selbstverständlich. „Solche kleinen Wunder, die glaubt man bald nicht mehr,“ sagte Moderatorin Birgit Ellinghaus an diesem Abend. ANIM, das steht für das Afghanistan National Institute of Music, 2010 in Kabul von dem afghanischen Musikethnologen Ahmad Naser Sarmast gegründet. Sarmast war 2016 Gast in Birgit Ellinghaus’ Gesprächsrunde; diesmal hielt er sich im Hintergrund und überließ den aktiven Musikern das Podium. Sein Institut war eine der Musikschulen Afghanistans. Es nahm Kinder unabhängig von Geschlecht, Sozialstatus und Ethnie auf und legte dabei besonderes Augenmerk auf Frauen, Mädchen, Straßenkinder und Waisen. (Vergleichbares gab es in in der europäischen Musikgeschichte mit den Ospedali in Venedig, an derer einem Antonio Vivaldi 15 Jahre lang tätig war.) Es repräsentierte die ethnische Vielfalt Afghanistans und die Vielfalt einer Musikkultur, die persische, indische und zentralasiatische Einflüsse aufgenommen hat und sowohl klassische als auch folkloristische Traditionen kennt. Parallel pflegte das ANIM auch klassische westliche Musik. International berühmt wurde es durch das Zohra Frauenorchester.
Nach der Schließung des ANIM durch die Taliban gelang es Ahmad Sarmast, mit Hilfe Filippo Grandis, des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen, und auf Einladung der portugiesischen Regierung, sämtliche Mitglieder des Instituts als Kontingentflüchtlinge aus Kabul nach Lissabon zu evakuieren – bis Mitte Dezember 2021 fast 280, inzwischen 323. Vermittler war das – in anderem Zusammenhängen zu Recht kritisierte – Emirat Qatar; zwischenzeitlich fanden die Institutsangehörigen Unterkunft in den für die Fußball-WM bereits fertiggestellten Gebäuden. Von Lissabon übersiedelte das Institut in die nordportugiesische Großstadt Braga, wo es mit Hilfe der dortigen Escola Artística Conservatório de Música Calouste Gulbenkian seinen Betrieb wieder aufnehmen konnte. Dass die Menschen beieinander und etablierte Verbindungen und Strukturen erhalten bleiben, ist ein gewaltiger Vorteil, wenn es darum geht, in Braga ein Kompetenzzentrum für afghanische Musik aufzubauen und diese damit für die Zukunft zu bewahren. Dennoch ist die Freude nicht ungetrübt: Zum einen mussten viele Exilierte Angehörige daheim zurücklassen. Birgit Ellinghaus mahnt das Publikum ausdrücklich, an diesem Abend keine Fotos zu machen und zu verbreiten, um niemanden unnötig zu gefährden. Zum anderen konnte Sarmat keine Instrumentenbauer mitnehmen, da diese als Handwerker und nicht als Künstler eingestuft wurden. Manche Instrumente wurden auf der Flucht beschädigt, andere blieben in Afghanistan, wo ihnen weiter die Zerstörung droht. Einheimische Instrumentenbauer dürfen nun keine afghanischen Instrumente mehr bauen, ihre europäischen Kollegen sind damit nicht vertraut.
Manche Instrumente wurden auf der Flucht beschädigt, andere blieben in Afghanistan, wo ihnen weiter die Zerstörung droht …
Auf der Bühne erleben wir zunächst das Amin Ensemble für traditionelle Musik mit überlieferten Instrumenten. Murad Sarkosh, der künstlerische Leiter, spielt die Ghichak, eine ungewöhnliche Streichlaute mit einer Blechbox als Resonanzkörper, und die Kashgar Rubab, eine uigurische Langhalslaute. Bilal Asify spielt das (auch in Indien gebräuchliche) Harmonium und Ibrahim Ibrahimi die Tabla. Alle drei Musiker tragen den Ehrentitel „Ustad“, den man mit der europäischen Ehrenbezeichnung „Maestro“ vergleichen kann. Dazu kommen Ramez Safar an der Rubab und die Sitar-Spielerin Huma Rahimi. Das Quintett sitzt in traditioneller Weise auf dem mit Teppichen ausgelegten Bühnenboden und spielt einen sehr abwechslungsreichen 40-minütigen Querschnitt klassischer afghanischer Musik in unterschiedlicher Besetzung und Stilistik; dabei ist nicht ganz klar, ob es sich um die im Programmheft abgedruckten Titel oder um andere handelt. Die Gruppe geht ganz im Musizieren auf, bestärkt durch Landsleute im Publikum, die an der einen oder anderen Stelle freudig mitklatschen. Aber auch für jemand, der ein wenig vertraut ist mit europäischer Musik des Mittelalters und der Renaissance oder mit der Folklore von den Rändern Europas, klingt diese Musik nicht allzu fremd. Das Harmonium erinnert manchmal sogar an das „Schifferklavier“ der norddeutschen Waterkant. Und wenn man Murad Sarkosh bei seinen Abwärtsglissandi auf der Ghichak schelmisch grinsen sieht, scheint es, dass die Vorstellungen von musikalischem Witz nicht all zu weit auseinanderliegen.
Mit dem ANIM Chamber Ensemble ändern sich Altersgruppe, Musizierhaltung und Stil. Hier erleben wir den hoffnungsvollen musikalischen Nachwuchs mit Amanullah Noori, Sevinch Majidi und Ali Sina Hotak an der Violine, Samir Akbari an der Bratsche, Zeenat Hanif am Cello und Alina Hesari an der Querflöte. Sie sitzen im Halbkreis auf Stühlen, und zwischen ihnen spielt Ibrahim Ibrahimi sanft und anpassungsfähig die Tabla. Am Pult steht Mohammad Qambar Nawshad; er ist auch Perkussionist und Komponist und hat eine Zusammenstellung afghanischer Titel arrangiert. Diese Arrangements klingen, wenn man von den elegant präsentierten vertrackten Taktarten absieht, verblüffend europäisch. Traditionelle Heterophonie mischt sich mit Dreiklangsharmonik, nur vermisst man bei letzterer eigenständige und markante Bass-Linien. Nawshad hat aber darauf geachtet, dass jedes Instrument sich solistisch profilieren kann. Für die Schlussrunde verbinden sich beide Ensembles zum gemeinsamen Musizieren. Auch hier erinnert manches an die folkloristisch gefärbten Triosätze in Haydn’schen Sinfonie- oder Quartettsätzen, manches an Bartóks Folklore-Studie, manches an die atmosphärische Vielstimmigkeit in Mahlers gemächlichen Sinfoniesätzen. Es kann eigenartig berühren, wenn einem als abendländischem Hörer die eigene Tradition als lebendige Praxis aus dem Orient entgegenklingt. Und man merkt: Es kann nicht nur ums Bewahren gehen. Wie wird sich afghanische Musik im portugiesischen Exil weiterentwickeln?
Wie wird sich afghanische Musik im portugiesischen Exil weiterentwickeln?
Den Abschluss des Abends bildet ein kurzes Podiumsgespräch mit Nawshad, Asifi und Rahimi. Spannend wäre es schon gewesen, mehr über die Musik als solche zu hören. Nachvollziehbar ist aber auch, dass sich Birgit Ellinghaus bei ihren Fragen auf die aktuelle Situation konzentriert. Deutlich wird, wie gut den Ensembles das gemeinsame Musizieren vor Publikum nach langer Konzertpause tut. Die afghanische Musik dürfe nicht zum Schweigen gebracht werden, betonen die Gäste. Sie wünschen sich Instrumente und möglichst auch ein eigenes Gebäude für Forschung und Lehre und hoffen auf weitere Evakuierungen von musizierenden Landsleuten. Es ist eine Zuhörerin aus Polen, die sich um ein ermutigendes Schlusswort bemüht: „Wir in Polen haben auch auf die Freiheit gewartet, und sie kam.“