Auch ein so kluger Festivalplaner wie Winrich Hopp kann Jubiläen nicht ganz umgehen. Da das Musikfest Berlin sich nicht der Oper widmet, ließen sich Wagner und Verdi vermeiden. Aber für ein Orchesterfest boten die 100. Geburtstage von Witold Lutosławski und Benjamin Britten interessante Ausgangspunkte.
Indem Hopp den Polen Lutosławski um zwei ältere Kollegen, den Tschechen Leoš Janáček (1854 geboren) und den Ungarn Béla Bartók (geboren 1881) ergänzte, ergab sich ein Panorama osteuropäischer Klassiker der Moderne. Mehr als die meisten westlichen Komponisten haben sie jenseits des Ideals der absoluten Musik Volksmusik-Einflüsse zugelassen. Elias Canetti hatte für Klänge zwischen den „hohen“ und „niederen“ Sphären, zwischen E und U, statt des herkömmlichen Musikbegriffs das tschechische Wort „Hudba“ verwendet. Dieses aus der bäuerlichen Kultur stammende Wort, mit dem Hans-Klaus Jungheinrich ein lesenswertes Buch über die tschechische Musik überschrieb, wählte Hopp als Leitbegriff des diesjährigen Musikfests.
Nicht alle Gastorchester ließen sich auf dieses Motto einschwören. Manche von ihnen spielten wie bisher weiter „Musik“. Andere boten jedoch tatsächlich „Hudba“, jenes Mittelding zwischen Dorfplatz, Straße und Konzertsaal sowie zwischen den von Adorno proklamierten Polen Schönberg und Strawinsky. Am deutlichsten wurde das beim RIAS-Kammerchor, der unter Leitung von James Wood ebenso sinnreich wie sinnlich Janáčeks „Kinderreime“ mit den „Verborgenen Reimen“ für Chor und Schlagzeug von Mauricio Kagel und „Les Noces“ von Igor Strawinsky kombinierte. Da triumphierte eine spielerische Fantasie, die humorvollen Nonsens einbezog und eine neue Dimension des Musikantischen eröffnete, das ebenfalls zu Hudba gehört. Bei „Les Noces“ trug allerdings die erstmals vorgestellte Fassung mit Live-Pianola, zwei Cymbalons, Harmonium und Schlagzeug wenig Erhellendes bei, zumal fast durchweg im Fortissimo musiziert wurde. Am meisten verblüffte neben der durchschlagenden Strahlkraft der Sopranistin Anu Komsi die Verwandtschaft der rhythmischen Ostinati mit Orffs „Carmina Burana“.
Das Hudba-Konzept meint eine Abkehr von der deutsch-österreichischen Musiktradition, weshalb Alban Berg den Begriff für sein Werk entschieden ablehnte, als Canetti ihm dies vorschlug. Béla Bartók, der der Bauernmusik wesentliche Anregungen verdankte, hat sich dennoch zur Traditionslinie Bach-Beethoven-Brahms bekannt. Witold Lutosławski, der unter der deutschen Besatzung in den Untergrund gehen musste, huldigte nach dem Krieg der offiziell gewünschten Volkstümlichkeit; aber schon bald wandte er sich wieder absoluter Musik zu. Dagegen hat Janáček, der als glühender Patriot die deutsch-österreichische Kultur mit größtem Misstrauen betrachtete, die meiste Zeit seines Lebens Hudba geschaffen.
Janáček – Bartók – Lutosławski
Beim Musikfest war ein repräsentativer Querschnitt aus seinem Schaffen zu erleben. Noch tappend unsicher und epigonal wirkte der mährische Komponist in der 1877 geschaffenen Suite für Streichorchester, die Manfred Honeck und sein Pittsburgh-Orchester mit unpassender Wucht präsentierten. Viel origineller ist sein Klavierzyklus „Auf verwachsenem Pfade“ (1908), von András Schiff eindrücklich gespielt. Wie dieser Zyklus basieren auch Janáčeks weitere Kompositionen überwiegend auf außermusikalischen Anregungen. So geht die symphonische Dichtung „Taras Bulba“ (interpretiert vom Konzerthausorchester) auf eine blutrünstige Novelle von Nikolai Gogol zurück und das erste Streichquartett („Kreutzersonate“) auf den gleichnamigen Tolstoi-Roman. Das Diotima-Quartett akzentuierte bei diesem Werk und den „Intimen Briefen“ die Geräuschhaftigkeit.
Der Spätentwickler Janáček hat mehr als im Konservatorium von Volksmusik gelernt. Zur kleingliedrigen Motivik seines Concertino für Klavier und Kammerorchester (Pierre-Laurent Aimard und das Chamber Orchestra of Europe) ließ er sich auch durch die Beobachtung kleiner Tiere anregen. In jenem Jahr 1926, als dieses unkonventionelle Werk entstand, schuf der Komponist für ein Turnfest seine Sinfonietta, in der entsprechend der Freiluft-Aufführung kräftige Blechbläser dominieren. Ebenfalls aus diesem fruchtbaren Jahr datieren die erwähnten „Kinderreime“ sowie das fragmentarische Violinkonzert „Wanderung einer kleinen Seele“, für das sich Thomas Zehetmair einsetzte. Meist in den oberen Regionen der Lautstärkeskala bewegte sich die Aufführung der Glagolitischen Messe (1927) durch Simon Rattle und die Berliner Philharmoniker. Statt des in tschechischen Kirchen sonst üblichen Latein verwendete der Komponist das einst für das Großmährische Reich entwickelte Kirchenslawisch, für dessen möglichst authentische Wiedergabe der Tschechische Philharmonische Chor Brno engagiert war. Die Eigenständigkeit von Janáčeks Musik beruht ja nicht zuletzt darauf, dass sich ihre Melodik und Rhythmik an slawischen Sprachen orientiert. Ein Vorläufer darin war Modest Mussorgsky, dessen „Lieder und Tänze des Todes“ der Bassbariton Hanno Müller-Brachmann zum Schluss des Musikfests mit großer Ausdruckspalette darbot.
Béla Bartók hat Bauernfolklore in die westeuropäische Musiktradition eingeschmolzen. In seiner Musik zur Ballettpantomime „Der wunderbare Mandarin“ verarbeitete er 1919, hierin Edgard Varèse verwandt, außerdem Großstadt-Erfahrungen. Die grelle Geschichte von den drei Ganoven, die ein Mädchen zur Prostitution zwingen, kommentierte er mit einer radikalen und perspektivenreichen Klangwelt, die an Brisanz hinter Strawinskys „Sacre“ nicht zurücksteht. Die umjubelte Interpretation mit Tugan Sokhiev und dem Deutschen Symphonie-Orchester war ein Höhepunkt des Musikfests. Hohe Orchesterkultur erlebte man auch in der Wiedergabe des „Konzert für Orchester“ mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter Mariss Jansons, den man allerdings beim Auftritt „seines“ zweiten Orchesters, des Concertgebouworkest, vermisste. Bartóks spätes Klavierkonzert Nr. 3 wurde hier zu einem zwiespältigen Erlebnis, weil die Tempo- und Stil-Auffassungen des Dirigenten Daniele Gatti und des Solisten Yefim Bronfman auseinanderklafften. Keinerlei Diskrepanzen gab es beim Rundfunksinfonieorchester Berlin, das sich unter Marek Janowski für die selten gespielten Vier Orches-terstücke op. 12 einsetzte; spannend zeigten sie den Weg des jungen Bartók vom Impressionismus zum Expressionismus des „Wunderbaren Mandarin“.
Witold Lutosławski, den Jubilar dieses Jahres, hatte schon zur Eröffnung das Pittsburgh Symphony Orchestra mit seinem Violinkonzert „Chain 2“ vorgestellt. Anne-Sophie Mutter, die das Werk 1986 unter Leitung des Komponisten uraufgeführt hatte, ist eine überzeugende Anwältin dieser Musik. Der große Expressivo-Bogen, den Manfred Honeck über sie wölbte, passte allerdings wenig zu ihrer konstruktiven Kühle. Dem Geist Lutosławskis näher waren Mariss Jansons beim effektvollen „Konzert für Orchester“ (1954) und Daniele Gatti bei der sich aus ruhiger Einstimmigkeit zum kollektiven Aufschrei steigernden „Musique funèbre“, die 1958 in memoriam Béla Bartók entstand, zugleich aber auch den gescheiterten Ungarn-Aufstand betrauert. Wie 1955 die Gründung des „Warschauer Herbsts“ besitzt Lutosławskis gleichzeitige Entdeckung der Aleatorik wohl auch eine politische Dimension – als Plädoyer für Freiheit. Bewusst hat der Komponist in späteren Werken die Hörer verunsichert. So ließ er in der labyrinthischen ersten Hälfte seiner Symphonie Nr. 3 offen, wohin der Weg führt. Erst dann erklingt der Hauptgedanke des Werkes, und der Sinn des signalhaften Mottos enthüllt sich sogar erst in den Schlusstakten. Esa-Pekka Salonen und das Philharmonia Orchestra London verwirklichten diese Dramaturgie noch zwingender als Simon Rattle und die Berliner Philharmoniker bei der Sinfonie Nr. 2.
Britten-Schostakowitsch
Benjamin Britten, der zweite Jubilar, hatte auch ohne Volksmusikstudien zu einem eigenen, weniger esoterischen Weg der Moderne gefunden. Der erfahrene Britten-Interpret Donald Runnicles bot mit dem Orchester der Deutschen Oper neben den „Four Sea Interludes“ die weniger bekannten „Illuminations“ nach Rimbaud-Gedichten, die auf die Pariser Commune reagierten (von Klaus Florian Vogt allzu geradlinig interpretiert). Als Entdeckung erwies sich Brittens frühes, noch vom Neoklassizismus geprägtes Klavierkonzert mit dem glasklar artikulierenden Pianisten Benjamin Grosvenor. Das von dem jungen Ilan Volkov geleitete Konzerthausorchester zeigte sich auch bei der „Sinfonia da Requiem“, Brittens klagender und zorniger Antwort auf den Weltkrieg, von seiner besten Seite. Den Mut zur Einfachheit und zum politischen Engagement teilte Britten mit seinem Freund Dmitri Schostakowitsch, dessen drei letzte Sinfonien zu hören waren. Für die 13. Sinfonie, welche mit grimmigen Worten Jewgeni Jewtuschenkos den Judenmord von Babi Jar anklagt, standen Marek Janowski und dem Rundfunksinfonieorchester Berlin neben dem großartigen Bass-Solisten Günther Groissböck der höchst präsente Estnische Nationale Männerchor zur Verfügung. Auch dem Orches-ter der Deutschen Oper gelang die mit Rossini- und Wagner-Zitaten gespickte 15. Sinfonie überzeugend. Die größte Intensität erhielt jedoch die todesnahe 14. Sinfonie: Der exzentrische Grieche Teodor Currentzis, der sie schon mit eigenem Ensemble in Sibirien eingespielt hatte, machte sie in der abgedunkelten Philharmonie mit den Gesangssolisten Angela Denoke und Petr Migunov sowie dem Mahler Chamber Orchestra zu einem tiefgreifenden Erlebnis.
Weitere Entdeckungen
Die Einladung zum Musikfest bedeutete für alle beteiligten Orchester einen Ansporn zur Höchstleistung. Am Beispiel des Concertgebouworkest hatte man beobachten können, wie entscheidend die Einheit von Dirigent und Orchester für die Qualität eines Konzerts ist. Wie beim Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks beeindruckte auch beim Philharmonia Orchestra London die Symbiose mit seinem Chef. Der dirigierende Komponist Esa Pekka-Salonen bot mit ihnen überzeugende Neudeutungen von Debussys „Nachmittag eines Fauns“ und von Ravels „Mutter Gans“. Zur geglückten Übereinstimmung kam es auch zwischen Simon Rattle und dem wunderbaren Bariton Christian Gerhaher, der Mahlers „Lieder eines fahrenden Gesellen“ liedhaft einfach sang. Eine Sternstunde war schließlich der Auftritt Martha Argerichs bei Daniel Barenboim und der Staatskapelle. Die Ovationen nach der anrührend persönlichen Deutung von Beet-hovens 1. Klavierkonzert beantworteten die aus Buenos Aires stammenden Künstler, indem sie Schuberts u
u großes A-Dur-Rondo in fast geschwisterlicher Verbundenheit vierhändig spielten. Nicht nur durch Komponistenporträts und auswärtige Gäste unterschieden sich die Musikfest-Abende vom üblichen Berliner Konzertbetrieb, sondern auch durch ungewöhnliche Programme in ungewohnter Besetzung. So begann das Chamber Orchestra of Europe kammermusikalisch mit Bartóks „Kontrasten“ und erweiterte sich über Kammerorchesterstücke von Janáček und Ligeti erst bei einem Mozart-Klavierkonzert zu voller Stärke. Zusätzlich waren in Kammerkonzerten sämtliche sechs Bartók-Quartette zu erleben. Die Nummern 2 und 6 dieser immer noch modernen, Hörer wie Spieler herausfordernden Kompositionen, spielte das 1976 gegründete Emerson String Quartet mit eindrucksvoller Homogenität, während das seit 1996 existierende Quatuor Diotima bei den sperrigen Werken 3 und 4 fast zu sehr seine technische Brillanz in den Vordergrund stellte.