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Rodrigo, Esilena, Florinda, Evanco und Giuliano (v.l.n.r.: Erica Eloff, Fflur Wyn, Anna Dennis, Russell Harcourt und Jorge Navarro Colorado). Foto: Alciro Theodoro da Silva
Rodrigo, Esilena, Florinda, Evanco und Giuliano (v.l.n.r.: Erica Eloff, Fflur Wyn, Anna Dennis, Russell Harcourt und Jorge Navarro Colorado). Foto: Alciro Theodoro da Silva
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Hund am Spieß … – Die 99. Internationalen Händelfestspiele Göttingen eröffnen mit „Rodrigo“

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Selten gespielt, jetzt zum Auftakt der Internationalen Händelfestspiele in Göttingen, Händels „Rodrigo“. Unser Kritiker Joachim Lange meint: Der szenische Rahmen spiele mit einem augenzwinkernden Zeitmix und überzeugt mit sinnlicher Opulenz, kostbar und im Ganzen tatsächlich von einer gewissen Magie durchzogen ist die Musik auch bei diesem Werk des 22jährigen Georg Friedrich Händel schon.

Im kommenden Jahr werden die Internationalen Göttinger Händelfestspiele einhundert Jahre. Sie leiteten in Deutschland die Händel-Renaissance des vorigen Jahrhunderts ein, zu deren Fundament und Motor sie neben den etwas jüngeren Festspielen in Halle und den in den 70er Jahren hinzugekommenen Festspielen in Karlsruhe weiterhin gehören. Geleitet werden die Göttinger Festspiele noch bis zum kommenden Jahr von einer Doppelspitze aus dem geschäftsführenden Intendanten Tobias Wolff und dem künstlerischen Leiter Laurence Cummings. Es ist wunderbarer Zufall des Kalenders, dass beide ihre erfolgreiche Zusammenarbeit mit einem Jubiläumsfestival krönen können, bevor sie aus ihren Ämtern scheiden und einen Neuanfang ermöglichen bzw. erforderlich machen.

Festspielmotto: Magische Saiten

Der 99. Festspieljahrgang stand unter dem Motto „Magische Saiten“ und bot zum Auftakt, die in Göttingen noch nie auf der Bühne zu erlebende frühe Händeloper „Rodrigo“. Bei deren Realisierung zeigten sich sowohl der Regisseur Walter Sutcliffe und Ausstatterin Dorota Karolczak, als auch der Musikchef am Pult des besonderen Orchesters auf Zeit, dem aktuellen Motto verpflichtet. In Florenz bei der Uraufführung 1707 hieß das Werk des damaligen, aufstrebenden Jungstars noch „Vincer se stesso à la maggior vittoria“ oder auf deutsch: „Sich zu selbst zu besiegen, ist der größte Sieg.“ Da zielt zwar tatsächlich auf jenen Rodrigo, dessen Name jetzt die Oper ziert, meint aber zum Beispiel auch dessen kurz nach dem Beginn der Oper abgelegte Geliebte, die mit ihrem Bruder und anderen Verbündeten einen Rachefeldzug anzettelt, bei dem ohne Rücksicht auf Verluste das ganze Staatswesen erschüttert wird. 

Das Werk galt bis in die siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts hinein zu großen Teilen als verschollen. Nachdem fehlende Teile der Partitur wieder aufgetaucht waren, brachte Alan Curtis „Rodrigo“ 1984 bei den Festwochen der Alten Musik in Innsbruck wieder auf die Bühne zurück. Zu den Händelfestspielen in Halle gab es 2001 eine komödiantische Version von Axel Köhler, die man ein paar Jahre danach auch im Prinzregententheater in München zu sehen bekam. Auf etwas mehr als ein reichliches Dutzend Aufführung weltweit kommt „Rodrigo“ bislang dennoch nicht. 

Seinen Seria-Dreiakter (zu einem Libretto nach Francesco Silvani) hätte der damals 22jährige Händel ebensogut nach der Ehefrau des Titelhelden Esilena benennen können. Diese Königin ist ein Muster an Vernunft, liebender Selbstlosigkeit und obendrein politischer Klugheit. Sie will nicht nur das Glück ihres Mannes, selbst wenn es an der Seite seiner Geliebten Florinda wäre, mit der er ohnehin schon ein Kind hat. Sie stellt auch ihre Stellung als Königin, sogar ihr Leben zur Disposition, als sie eine Chance sieht, dadurch ein Ende von sinnlosem Mord und Totschlag zu erreichen. 

Händelsche Melodienpracht

Der händelschen Melodienpracht und seinem Geschick bei den ausführlichen Rezitativen fehlt zwar die Krönung durch einen seiner Bravour-Hits – aber kostbar und im Ganzen tatsächlich von einer gewissen Magie durchzogen ist die Musik auch hier schon. Mit Liebe und Rache, Sehnsucht und Entsagung geht er bereits perfekt um. Ebenso bereitet er das sich anbahnende lieto fine mit einem wunderbaren Duett zwischen dem geläuterten Rodrigo und seiner Esilena vor. Nicht nur die Anlage dieser Figur erinnert an ihre späte Nachfahrin auf der Opernbühne, jener Feldmarschallin, der Hofmannsthal und Strauss die selbstlose Liebe in die Kehle geschrieben haben. Händel hat die Partie der Esilena mit wunderbar gefühlvollen Arien ausgestattet; eine besonders atemberaubende sogar mit einem virtuosen Streichersolo verflochten. Die junge walisische Sopranistin Fflur Wyn hat genau das einschmeichelnd warme Timbre, das passend mit der zuspitzenden Vehemenz von Anna Dennis in der Rolle ihrer Rivalin Florinda kontrastiert.

In der Titelpartie gelingt es der südafrikanischen Sopranistin Erica Eloff, mit einer in erster Linie prägnanten und wandlungsfähigen Stimme darstellerisch ohne jeden Anflug von Hosenrollenpeinlichkeit Rodrigo überzeugend als einen Mann zu spielen, der zwischen Skrupellosigkeit, Ratlosigkeit und Einsicht eine erstaunliche Spannbreite von Gemütszuständen durchläuft. 

Bis am Ende die große Versöhnung hereinbricht steht Florindas Bruder Giuliano im Bündnis mit dem abservierten Sohn von Rodrigos Vorgänger Evanco an der Seite im Kampf gegen Rodrigo. Als Giuliano steuert Jorge Navarro Colorado mit wohltimbriertem und zunehmend koloraturlocker geführtem Tenor die vergleichsweise dunkelste Stimmfarbe bei. Countertenor Russell Harcourt, der zuerst als gefesselter, fast nackter Gefangener Evanco hereingeschleppt wird und ganz am Ende auf dem Thron landet, profiliert sich mit seiner bis in eine gewisse Schärfe gesteigerten, aber durchweg virtuos geführten vokalen Vehemenz. Als zweiter, warm und geschmeidig klingender Countertenor komplettiert Leandro Marziotte als treuer Fernando an der Seite Rodrigos das Protagonistenensemble.

Zeitmix überzeugt mit sinnlicher Opulenz

Der szenische Rahmen spielt mit einem augenzwinkernden Zeitmix und überzeugt mit sinnlicher Opulenz. Die Bühne ist Raum gewordene Dekadenz und Endzeit. In der Nähe dieser Flucht von heruntergekommenen Palastsalons muss die sprichwörtliche Granate eingeschlagen haben. Die Flaschen mit diversen Alkoholika sind noch gut gefüllt. Selbst die üppigen Kristall-Kronleuchter spenden Licht und wenn der Strom mal ausfällt, dann muss halt einer aufs Rad und für Notstrom strampeln. Zwischen all dem Ramsch läuft immer mal ein imposanter königlicher Hund herum. Freilich endet er tragisch. Auf dem Grill. Als Fleischbeilage zum großen Versöhnungsessen am Ende. Wenn sie alle keine Kraft mehr haben, um sich zu verfolgen und aus Rache umzubringen. 

Das ist die Prise britischen Humors, die zu all dem sinnlich opulenten und szenisch schlüssigen Ernst sein musste. Sonst wird im Privaten verziehen, politisch großmütig auf die Macht verzichtet. Güte und Vernunft triumphieren am Ende. So wie der hochsouverän und mit Verve und Einfühlung agierende Laurence Cummings gemeinsam mit seinen Spezialisten im Graben, den Protagonisten auf der Bühne und dem Regieteam. 

Die Hundertsten können kommen!

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