Dem Theater Magdeburg gelingt eine packende „Elektra“ von Richard Strauss und Hugo von Hofmannsthal.
Normalerweise reicht eine Elektra voll auf aus. Auf der Magdeburger Opernbühne gibt es jetzt gleich zehn davon! An der Seite der sich phänomenal steigernden Britin Elaine McKrill sind die fünf Mägde, die Aufseherin, der Pfleger des Orest und noch zwei Statistinnen als deren Alter Egos des Königskindes dauerpräsent. Wie die Teile einer gespaltenen, sozusagen explodierten Persönlichkeit. Wenn schon eine Frauenoper, dann richtig, hat man sich offenbar in Magdeburg gesagt. Denn auch Regie (Aniara Amos), Bühne (Corinna Gassauer), Kostüme (Maria-Elena Amos) und nicht zuletzt die Dramaturgie (Ulrike Schröder) werden von Frauen verantwortet. Und das ist (anders als in der ebenfalls betont weiblich gesehen „Carmen“ neulich in Halle) auch gut so. Sehr gut sogar, denn sie fördern bei diesem Einakter auch meist weniger beachtete, gar gestrichene Seiten zu Tage.
Dass Elektras Persönlichkeit zerstört ist, weil sie nur der Gedanke an die Blutrache an den Mördern ihres Vaters Agamemnon am Leben erhält, gehört zum Konsens jeder Inszenierung dieses, auch nach 106 Jahren noch ziemlich modern daherkommenden Opernschockers. Dass sie aber nicht nur ihre Mutter Klytämnestra und deren Lover Aegisth (mit angemessen grotesker Übersteigerung: Michael Gniffke) am liebsten mit dem Beil, das ihren Vater tötete, umbringen würde, auch selbst ein Opfer des Missbrauchs durch ihren Vater ist, daran erinnert gemeinhin nur die erinnernde Erzählung Elektras.
Es ist schon interessant, dass der Fixierung auf die Rächerin des Vaters die folgende, jetzt in Magdeburg gesungene und szenische aufgegriffene Passage geopfert wird. Zu ihrem Bruder sagt sie nach „Ich habe alles, was ich war, hingeben müssen. Meine Scham hab ich geopfert, die Scham, die süßer als Alles ist, die Scham, die wie ein Silberdunst, der milchige des Monds, um jedes Weib herum ist und das Grässliche von ihr und ihrer Seele weghält, Verstehst du’s Bruder?“ (was auch schon ziemlich deutlich ist) eigentlich auch noch: „Diese süßen Schauder hab’ ich dem Vater opfern müssen. Meinst du, wenn ich an meinem Leib mich freute, drangen meine Seufzer, drang mein nicht sein Stöhnen, an mein Bette? Eifersüchtig sind die Toten: und er schickte mir den Hass, den hohläugigen Hass als Bräutigam.“
In Magdeburg wird das nicht nur gesungen, sondern man sieht eine Andeutung der Erinnerung auch. Oben auf der Mauer in einer Szene zwischen herrischem Vater und eingeschüchterter Tochter. Wie man überhaupt sieht, was Elektra denkt, oder besser, was sie alpträumt.
Die Bühne ist ein beengendes Halbrund mit einer Galerie und dem Fernblick in eine unbestimmt weite Landschaft oben und mit archaischen Mauer-Öffnungen unten. Ein eher abstrakter Raum, der gleichwohl wie ein Gefängnishof wirkt, in den man von oben hinuntergaffen kann, als würde man wilde Tiere bestaunen. Da ist ihr Bruder Orest, der als Kind beiseite geschafft wurde, als Grippe stets anwesend und kehrt leibhaftig als Tod wieder. Doch Elektra wendet sich nicht an den sonor singenden Martin-Jan Niehof, sondern an den Bruder, so wie sie ihn als kleinen Prinzen in Erinnerung hat. Auch mit ihrer Schwester Chrysothemis geht es ihr so. Wenn sie die Schwester, die sich nach einem normalen Weiberleben mit Mann und Kindern sehnt, anspricht und zur gemeinsamen Tat überreden will, dann nimmt sie auch hier das kindliche Alter Ego in die Arme. Diese Dopplungen sind erhellend, ohne aufdringlich zu wirken. Was auch daran liegt, dass die sonst immer etwas als Illustration untergehenden Mägde samt Aufseherin (Henriette Gödde, Ilka Hesse, Inga Schäfer, Uta Zierenberg, Hale Sonder und Jenny Stark) ihre zusätzlichen Elektrarollen mit vokaler Sorgfalt und darstellerischer Emphase voll ausfüllen.
Dass die in Chile geborene Regisseurin künstlerisch aus Achim Freyers Umfeld kommt, merkt man, wenn Klytämnestra mit zwei fantasievoll ausstaffierten Begleiterinnen oben auf der Mauer erscheint. Undine Dreißig denunziert diese Königin nicht, der ihr ermordeter Mann ja immerhin die Tochter Iphigenie schlachten wollte, damit ihn der Wind in den Krieg weht. So klingt denn im Gesang (nicht Gekreisch) das eigene Schicksal mit. Noa Danon muss nicht viel dazu tun, um als Chrysothemis das Modell Leben, dem der Rache Elektras entgegenzusetzen. Ihr gelingt das darstellerisch und zunehmend auch stimmlich. Wenn ganz am Ende, als die Rache längst vollzogen ist, nach Elektras erschöpften Freudentanz vor ihren Augen ihr Lebensfilm noch einmal rückwärts abläuft, dann sieht man oben auf der Mauer ihre Angst um die Schwester, von der sie fürchtet, dass auch sie in den Abgrund dieser schrecklichen Familie gezogen wird. Das ist ein letztes, faszinierend schauerliches Ausrufezeichen.
Im Graben braucht die Magdeburgische Philharmonie unter der umsichtigen Leitung ihres ersten Kapellmeisters Michael Balke nicht lange, um bei der dunkel dräuenden, eloquent treibenden und dann vor allem gefährlich jubelnden Musik auf Touren zu kommen und ihren Teil zu einer in sich stimmigen, packend umgesetzten und einhellig bejubelten Inszenierung beizutragen.