Das Nordharzer Städtebundheater widmet sich in Halberstadt einer besonderen Art der Italiensehnsucht: Ambroise Thomas „Mignon“ nach Goethe. Joachim Lange sieht ein Hausensemble, das seine Sache wirklich bravourös mache.
Ambroise Thomas (1811-1866) und seine Musik sind auch so ein Opfer der übermächtigen Schatten, mit denen Richard Wagner und Giuseppe Verdi im Bewusstsein der Nachgeborenen ihre Umgebung verdunkeln. Zu seiner Zeit war der Franzose ein Star. Von seinen 19 Opern sorgen heute noch die gelegentlich gespielte Hamlet-Oper nach Shakespeare und die auf Goethe zurückgreifende „Mignon“ (1866) dafür, dass er in Erinnerung bleibt. Hört man sie jetzt, dann braucht es nicht mal extravaganten Wiederentdeckermut, um sich der „Mignon“ anzunehmen.
Im Graben des Theaters Halberstadt ist das jetzt mit dem Intendanten und Musikdirektor Johannes Rieger am Pult gleichwohl Chefsache. Das Orchester lässt keinen Zweifel daran, dass es sich mit dieser sofort eingängigen, einschmeichelnden, allemal auf die Zuschauer überspringenden und die Sänger maßgeschneidert umhüllenden Musik pudelwohl fühlt. Die Protagonisten auf der Bühne gehören allesamt zum Hausensemble und machen ihre Sache wirklich bravourös! Die ganze Produktion ist ein Musterbeispiel dafür, was mit eigenen Kräften gelingen kann, wenn man die haargenau passenden Stücke für sein Ensemble aufspürt.
Mignon ist eine Gestalt aus „Wilhelm Meisters Lehrjahre“. Aus einzelnen Motiven des Goethe-Romans haben Jules Barbier und Michel Carré in einem naturgemäß vereinfachenden Libretto eine romantisch traurige Geschichte gemacht. Regisseur Hinrich Horstkotte und seine Ausstatterin Eva-Maria Schwenkel erzählen sie auch so. Diesen Regisseur hat immerhin die Volksoper in Wien für Klassiker wie „Zar und Zimmermann“ oder „Eine Nacht in Venedig“ engagiert. Auch das Anhaltische Theater in Dessau hat mit Prokofjews „Liebe zu den Drei Orangen“ einen veritablen Erfolg im Programm.…
An die Sehnsucht nach dem Land, wo die Zitronen blühen (wie Italien in dem der Hit der Oper geradezu sprichwörtlich umschrieben wird), erinnert – wie ein Logo – immer wieder dezent ein Zweig mit diesen Früchten. Die Kostüme sind von der Belle Èpoque, also der Entstehungszeit der Oper inspiriert. Wobei die Atmosphäre auch einen Hauch von kleinstädtisch deutscher Biedermeier-Idylle verströmt. Große Chornummern bereiten atmosphärisch den Boden für den Auftritt der Zigeunertruppe Jarnos (Norbert Zilz ist deren Prinzipal in Clownsmaske). Als Mingon sich weigert, ihren (ganz wörtlich gemeinten) Eiertanz aufzuführen, droht der ihr mit Stockhieben. Man merkt ihrer Kleidung (Männerhosen unterm Rock), vor allem aber ihrem Verhalten an, dass sie das alles nicht ganz freiwillig macht. Den reisenden Studenten Wilhelm berührt das so, dass er sie kurzer Hand von den Zigeunern freikauft. Allerdings wird er sie dann auch nicht wieder los. Zum Problem wird das, bei einem Rendezvous Wilhelms mit der von ihm angehimmelten Schauspielerin Philine. Deren „Kollege“ Laertes (urkomisch: Tobias Amadeus Schöne) zieht sich bei solchen Gelegenheiten diskret zurück. Mignon nicht. Wenn sich Wilhelm mit der Diva kurz vor ihrem Auftritt als Titania in einer Sommernachtstraum-Aufführung im Schloss von Baron Friedrich von Tiefenbach (mit dem Witz einer leichten Überzeichnung: Thomas Kiunke) trifft, vermasselt ihm die eingeschüchterte (aber auch einschüchternde) Mignon die Tour. Ihre Anhänglichkeit sorgt für eine Nummer in Slapstick-Nähe. Da kullern Schauspielerin und Verehrer vom Sofa auf den Boden und machen das dann gleich nochmal.
In Hochform
Nicht erst dabei laufen Max An als Wilhelm und Bettina Piergas als Philine zu Hochform auf. Er durchweg exzellent mit standfest strahlendem Tenorschmiss, sie mit Noblesse und Koloraturleichtigkeit. Auf der anderen Seite entfaltet Runette Botha nicht nur allen stimmlichen Sehnsuchtscharme, den es für Mignon braucht. Der Plot bietet noch einen veritablen Theaterbrand, den der zeitweise verwirrt herumirrende Lothario (mit Alterswürde: Klaus Uwe Rein) legt und aus dessen Flammen Wilhelm Mignon rettet. Und er führt sie, wenn auch schwer verletzt, ins erträumte Italien, wo sich ihre tragisch-noble Herkunft (Ihre Eltern waren Geschwister, und erfuhren das erst, als es „zu spät“ war) enthüllt. Botha beglaubigt in diesem abstrakt weißen „Italien“ des dritten Aktes auch stimmlich ihr traumatisierendes Schicksal. Einen Ausweg in ein „normales“ Leben, wie es nach der Uraufführung mit tragischem Schluss eingeführt wurde, gibt es in Halberstadt nicht. Horstkotte liefert zum luftig leichten Auftakt des knapp dreistündigen Abends eine tragische Fallhöhe. Und beglaubigt so tatsächlich, neben der freundlichen Wohlgefälligkeit, die anrührende Studie eines heimatlosen Menschen, die er mit seiner Inszenierung im Visier hatte. Dem Nordharzer Städtebundtheater ist so nicht nur mit seiner „Familie Braun“ im Schauspiel, sondern auch mit dieser „Mignon“ in der Oper ein Volltreffer gelungen!
- Nächste Vorstellungen: in Halberstadt am 17.3. (15.00), 31.3. (15.00), 10.5. (19.30), 01.06. (19.30) | in Quedlinburg: 8.3. (19.30), 5.5. (15.00) | im Carl-Marina-von-Weber Theater Bernburg: am 7.4. (16.00)