Im Jahr 2014 wurde in vielen Ländern Europas an den Beginn des ersten Weltkriegs 1914 erinnert – an Sarajewo und die trügerischen Hoffnungen auf rasche Siege, den Terror des ‚Stellungskriegs‘ und den monströsen ‚Blutzoll‘ auf beiden Seiten der festgefahrenen Fronten. Bald aber wurde diese Komponente der Gedenkkultur wieder kleinlaut, wiewohl das unerbittliche militärische Ringen um die Neugestaltung der globalen Machtverhältnisse mehr als vier Jahre anhielt und in eine weltgeschichtliche Phase der revolutionären Umgestaltung überging. 2017 hat zunächst die Westfront der Erinnerungsbemühungen wieder auf sich aufmerksam gemacht (und ein intensiverer Blick auf das Russland vor hundert Jahren dürfte folgen). Aber Luther und das Reformations-Jubiläum bestimmen hierzulande die Kulturszene mit den grellsten Werbe-Slogans („Zwei Städte für ein Halleluja“ etc.). Gegenläufig zum medialen Stolz insbesondere der Nordostdeutschen auf „ihren“ Luther verweist die Region Flandern z.B. auf die monströsen Schlachten, die hier vor hundert Jahren stattgefunden haben.
Manchmal freilich dringt das ferngerückte Kanonendonnergrollen neuerlich bis in die Herzkammern des einstigen preußisch-deutschen Militarismus vor. In Potsdam war der 20. Mai dem bedeutendsten Komponisten der DDR gewidmet: Die Internationale Hanns Eisler-Gesellschaft präsentierte im Anschluss an eine Mitgliederversammlung im Filmmuseum der brandenburgischen Landeshauptstadt „Niemandsland“. Der 1931 entstandene, durch die Ästhetik Sergej Eisensteins geprägte experimentelle Film von Viktor Trivas, zu dem der österreichische Komponist Hanns Eisler die Musik schrieb, wurde in einer Version gezeigt, die von anderen in Umlauf befindlichen Kopien abweicht. Es fehlten zum Beispiel die pazifistischen Parolen am Ende. Der Rückblick auf die ‚Materialschlachten‘ und den Einsatz von Giftgas 1917 in Südwest-Flandern und Nordost-Frankreich koinzidiert mit der gegenwärtigen Akzentsetzung der Erinnerungsbemühungen an den Original-Schauplätzen. So surreal in „Niemandsland“ der unfreiwillig beginnende Diskurs von fünf Weltkriegs-Teilnehmern aus den gegnerischen Lagern in einem unter Granatbeschuss stehenden Unterstand aus heutiger Sicht zunächst anmuten mag: Der Film gewinnt nicht nur eine nach wie vor bemerkenswerte ästhetische Dynamik, sondern wirft im Verzicht auf eine plausible Lösung auch Fragen auf, die längst nicht abgetan sind. Zum Beispiels die nach der Bedeutung punktueller Beendigung von Kampfhandlungen in einem insgesamt weitergehenden militärischen Konflikt – oder die viel weitergehende: „Wem gehört die Welt“?
Wie kann sich Kunst dem Schrecken des Weltkriegs noch einmal nähern?
In die vielfältigen Formen der Gedenkkultur bei Deutschlands westlichen Nachbarn ordnete sich auch das ambitionierte Projekt des belgischen Regisseurs Luk Perceval und der israelisch-amerikanischen Komponistin Czernowin ein, das zunächst in Gent auf die Bühne kam und dieser Tage auch in Mannheim gezeigt wird: „Infinite Now“ rekurriert zur einen Hälfte auf literarischen Quellen aus dem „grande guerre“ bzw. dem ersten Weltkrieg. Zur anderen auf einer formal avancierten modernen chinesischen Erzählung. Die Produktion zielt auf irdische Höllenqualen, auf das große Massensterben und das Verschwinden des einzelnen sinnlosen „Todesfalls“ in Communiqués, Statistiken und Gesamtdarstellungen von „Kriegsgeschehen“ – bei aller geographischen Nähe aus erheblicher historischer Distanz. Unter direkter und indirekter Bezugnahme auf Erich Maria Remarques Frontsoldaten-Roman „Im Westen nichts Neues“ (1928) zielt Chernowins und Percevals Musiktheater weit über das Interesse am traurigen Schicksal von Paul Bäumer oder dem solidarischen Verhalten des Uffz. Stanislaus Katczinsky hinaus – über den weiters keiner Meldung werten Tod eines Landsers vor hundert Jahren.
Die Furie des Verschwindens und die nicht glückende Heimkehr
Perceval und Czernowin eifern, poltern, wüten oder agitieren dabei nicht. Es ist, als wollten sie mit etwas, was nicht verständlich zu machen ist und wofür, wenn dem individuellen Opfer mit Anstand Rechnung getragen wird, Bilderverbot besteht, auf verschlungenen Pfaden ‚ins Reine‘ kommen. Ihr Theaterabend nähert sich aus unterschiedlichen Perspektiven dem Verlorensein in der Trichterlandschaft des „Stellungskriegs“ und den Schrecken einer ganz anders als in den Wunschträumen verlaufenden „Heimkehr“.
Eine durchgängige Erzählung gibt es dabei nicht. Die Schemen der Handlung treten so rhapsodisch wie assoziativ ein. Die aus dem Kontrast der Blickwinkel sich ergebenden theatrale Szenenfolge wirkt dabei in denkwürdiger Weise homogen. Dies dürfte zuvorderst der Komposition Czernowins geschuldet sein, die mit trockenen Schlägen und Windgeräuschen einsetzt: Akustische Botschaft eines (noch) fernen Kriegsgeschehens, in die sich schneidend metallische Schärfe einschaltet. Wie der Weltkrieg zieht sich das Klangband hochgradig geräuschgeladen hin. Es wirkt in seiner ruhigen Grundanlage, mit all seinem Flüstern und Wispern, insgesamt keineswegs quietistisch oder gar begütigend (offenbart sich als hoch differenziertes Konstrukt). Doch so entschieden das Werk auf Betroffenheit zielt: Gewollt oder unabsichtlich leistet es einer wennschon nicht verbal artikulierten, so doch gefühlten Aussöhnung mit Unfassbarem und eigentlich nicht Hinnehmbarem Vorschub (und bleibt am Ende so fassungs- und ratlos wie schon der Film von Viktor Trivas). Je länger, desto nachdrücklicher mag einem die auf alles andere als Wohlklang erpichte karge und sensible Tonspur als so „schön“ erscheinen wie Percevals ruhig- erhabene Bildästhetik.
Lehren aus Ypern?
Ob es sich, wie angekündigt, bei der Kreation „Infinite Now“ um eine Oper handelt, lässt sich in Abrede stellen. Veritable Arien kommen in den sechs Akten jedenfalls nicht vor. Eben so wenig bauen sich geballte Chor-Szenen mit dräuendem Orchester auf, wiewohl diese sich vom Sujet her angeboten hätte. Nur einmal erhebt sich, im „vierde bedreif“, intensivere Gesangslineatur. Da droht X, einer namen- und geschlechtslosen chinesischen Person, nach der Ankunft im eigentlich vertrauten, nun aber so fremd erscheinenden Haus die Orientierung abhanden zu kommen. Jäh mutiert die Szene zum Schlachtfeld bei Ypern im Jahr 1917. Damals rückte, wie es im Text heißt, „der Feind“ auf Sichtweite heran – auf sechzig Meter oder noch näher. Die deutschen Landser im Schützengräben schreiben Feldpostbriefe nach Hause – die meisten ihren letzten.
Doch bis zu dieser Kulminationsszene im Musiktheater von Luk Perceval und Chaya Chernowin dauert es fast eineinhalb Stunden. Zuvor ging es mit kleinen Episoden aus der Erzählung der als „experimentell“ gerühmten chinesischen Avantgarde-Schriftstellerin Can Xue um den Weg zum „Haus am Abgrund“ und das Zurechtfinden in ihm sowie die Auseinandersetzung mit dem dort wohnenden alten Mann – und immer wieder, mit fast unmerklichen Übergängen, um kurze Reminiszenzen aus Remarques Roman: „Infinite Now“ stützt sich auf dreieinhalb Text- bzw. Theater-Quellen: Auf Can Xues „Homecoming“ und auf Percevals Theaterproduktion „Front“. Diese basiert auf Briefen von der südwestflämischen Front in die Heimat und insbesondere auf Remarques Roman, der aus der Distanz von zehn Jahren zu den Ereignissen entstand und 1930 in Hollywood von Lewis Milestone als „All Quiet on the Western Front“ verfilmt wurde. Die Textebenen, in Deutsch, Französisch, Vlaams und Englisch, deutsch, verschränken sich – allemal ausgehend von Passagen aus „Homecoming“ – zu einer komplexen Montage. Sie nimmt insgesamt den Krieg und die Kriegsfolgen ins Visier.
Entsprechend komplex und doch zielgerichtet verhält sich die Musik. Korrespondierend zu den sechs Akten stützt sie sich auf sechs Material- und Klang-Ebenen: auf das Orchester, elektronische Einspielungen (auch des chinesischen Textes von „Homecoming”, Tier- und Naturgeräuschen wie Vogelzwitschern, Grillen, Kuhglocken und Wassergeräusche), dann auf zwei vokale Solisten-Trios (Mezzosopran / Countertenor /Bariton bzw. Sopran / Contraalt / Bass), die Stimmen der Schauspieler (en Duits, Frans, Vlaams, Engels) und schließlich vier Instrumentalsolisten (zwei Elektrogitarren und zwei Celli).
Mit „Infinite Now“ geht es um „Verallgemeinerung“ und „Lehren aus der Geschichte“ des Kampfes um Ypern. Der Name der flämischen Stadt steht (wie der des benachbarten Dorfes Langemarck) für deutschen Wahnwitz und Kriegsverbrechen. Die Orte liegen etwa eine halbe Autostunde von Gent entfernt. Gent, einer der beiden Spielorte von de vlaamse opera, schien also wie berufen, hundert Jahre nach der „dritten Flandernschlacht“ an die Schrecken, Gräuel, den millionenfachen Tod in den Schützengräben und den Stacheldrahtverhauen zwischen ihnen zu erinnern – auch wenn die Mittel der Kunst aus den längst bekannten Gründen an ihre natürlichen und künstlichen Grenzen stoßen. Und dass die Produktion östlich des Rheins nun in Mannheim gezeigt wird, erscheint angesichts des totalitär anmutenden Luther-Rummels zwar vorbildlich, aber doch viel zu wenig.