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Yannick Nézet-Séguin und sein Rotterdam Philharmonic Orchestra überraschten mit Bruckners 4. Symphonie und  Zimmermanns „Symphonie in einem Satz“. Foto: Bob Bruyn
Yannick Nézet-Séguin und sein Rotterdam Philharmonic Orchestra überraschten mit Bruckners 4. Symphonie und Zimmermanns „Symphonie in einem Satz“. Foto: Bob Bruyn
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Imaginierte Rituale, orchestrale Klangschichten

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Mehr Neue Musik als je zuvor: Eindrücke vom Musikfest Berlin
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Kompositionen von Morton Feldman, John Cage, Pierre Boulez, Karlheinz Stockhausen und Mathias Spahlinger standen auf dem Programm des diesjährigen Musikfests Berlin. Solche Werke waren einmal Schwerpunkte der MaerzMusik und der ihr vorangehenden Musik-Biennale gewesen. Unter Berno Odo Polzer hat die MaerzMusik als „Festival für Zeitfragen“ allerdings eine prinzipielle Skepsis gegenüber traditionellen Konzertformaten entwickelt. Dies regte Winrich Hopp an, die entstandene Lücke auszufüllen. Noch nie setzte das von ihm betreute Musikfest einen so starken Akzent auf Neue Musik wie in diesem Jahr. Noch nie gab es allerdings auch so viele leere Plätze.

Unter dem Motto „Rituale, Zeremonien, Aktionen und Symphonien“ war das Jahr 1918 der geheime Bezugspunkt der Programmdramaturgie. In jenem letzten Kriegsjahr vollendete Abel Gance seinen abendfüllenden Stummfilm „J’accuse“, der jetzt mit einer neuen großbesetzten Musik von Phillippe Schoeller zu starker Wirkung kam.

Vor hundert Jahren

Im Jahr 1918 starb Claude Debussy. Mit den suggestiven Klangbildern seiner Klavier-Préludes, von Alexan­der Melnikov auf dem obertonreichen Erard-Flügel gespielt, begann das Musikfest. Ein Höhepunkt waren die „Schritte im Schnee“, deren vom Komponisten als „schmerzhaft“ empfundene Dissonanzen Melnikov sehr langsam auskostete. Subtile französische Klangkultur offenbarten auch der Pianist Florent Boffard mit seiner Wiedergabe von Band 1 der „Images“ und Cédric Tiberghien, der nach Ravels Konzert für die linke Hand traumhaft leise ein Stück aus den „Miroirs“ zugab. Wie viel Debussy der Klangwelt Richard Wagners verdankte, war dem von Robin Ticciati geleiteten Konzert des Deutschen Symphonie-Orchesters Berlin zu entnehmen, das Auszügen aus „Parsifal“ die Bühnenmusik zum Mysterienspiel „Le Martyre de Saint Sébastien“ gegenüberstellte. Bei beiden Werken wirkte der Rundfunkchor Berlin mit, dessen auf hohen Emporen platzierte Frauenstimmen eine magische Ausstrahlung besaßen. Die Raumklang-Möglichkeiten der Berliner Philharmonie wurden damit auf das Schönste genutzt – auch eine Hommage an den vor 125 Jahren geborenen Architekten Hans Scharoun. 

Fünf Tage vor Debussys Tod war am 20. März 1918 Bernd Alois Zimmermann in der Nähe von Köln zur Welt gekommen. Der Zweite Weltkrieg hat ihn, den frommen Katholiken, von Grund auf erschüttert. Das ist auch seinem 1950 vollendeten Violinkonzert zu entnehmen, das Carolin Widmann ausdrucksstark interpretierte. Während in der motorischen Rhythmik und den neoklassischen Formen der Ecksätze noch Einflüsse von Strawinsky und Bartók spürbar sind, verwendete der Komponist im zweiten Satz, der Fantasia, erstmals eine Zwölftonreihe. Zugleich klang hier mit dem Dies-Irae-Motiv der Bläser und mit monumentalen Tutti-Klängen die Erinnerung an die Schrecken des Krieges nach, was den Komponisten zu seiner eigenen Tonsprache hinführte. Sie prägte dann auch seine „Sinfonie in einem Satz“, welches das Rotterdam Philharmonic Orchestra in der Fassung mit Orgel von 1951 spielte. Bei diesem düsteren, energiegeladenen Werk dachte man jetzt nicht nur an die Zerstörung von Köln, der Heimat des Komponisten, sondern auch an die Stadt Rotterdam, welche die deutsche Luftwaffe bereits im Mai 1940 bombardiert hatte. Schon zu Zimmermanns Spätwerk gehört sein großbesetztes Orchesterstück „Photoptosis“ und, ebenfalls gespielt vom Orchester der Deutschen Oper Berlin unter Donald Runnicles, das einen einzigen Ton umkreisende, nicht weniger intensiv wirkende Schwesterwerk „Stille und Umkehr“, das sich zum Schluss bis zum Stillstand reduzierte. Den Münchner Philharmonikern unter Valery Gergiev war die ekklesiastische Aktion „Ich wandte mich und sah an alles Unrecht, das geschah unter der Sonne“ zugefallen. Leider wurden die hier vorgeschriebenen theatralischen Aktionen auf ein kaum wahrnehmbares Minimum reduziert, was trotz des lebhaften Singens und Schreiens des Baritons Georg Nigl die vorgesehene Schockwirkung beeinträchtigte. Unmittelbar nach Beendigung dieses Werks hatte der Komponist am 10. August 1970 den Freitod gewählt. 

Zimmermann stand immer im Schatten seines ebenfalls in Köln lebenden und zehn Jahre jüngeren Kollegen Karlheinz Stockhausen, den das Musikfest anlässlich seines 90. Geburtstags (am 22. August) mit vier Konzerten ehrte. Während Zimmermann an der Welt verzweifelte, glaubte Stockhausen weiterhin an eine den Kosmos durchwaltende göttliche Ordnung. Mit einem Systematisierungsdrang, der den von Schönberg und Webern weit überstieg, integrierte er alle Dimensionen des Klanges in ein eigenes verfeinertes System, mit welchem er die Welt ordnete und erklärte. Zu seiner Komposition „Mantra“ für zwei Pianisten und Ringmodulation, die er 1970 für die Weltausstellung in Osaka schuf, erklärte Stockhausen selbstbewusst: „Natürlich ist die einheitliche Konstruktion von ‚Mantra‘ eine musikalische Miniatur der einheitlichen Makro-Struktur des Kosmos.“ Eine 13-tönige Formel hat er hier in 13 Zyklen streng konstruktiv verarbeitet. In dieser eindrucksvoll vielgestaltigen Komposition, von Pierre-Laurent Aimard und Tamara Stefanovich höchst kompetent vorgetragen, ließen sich trotz der oft glockenähnlichen Verfremdung durch den von Marco Stroppa gesteuerten Ringmodulator „Themenelemente“ wie Tonrepetition und Sextsprung gut verfolgen. Wenn nach einer virtuosen Stretta und einer ruhigen Coda zum Schluss die Formel noch einmal unverändert erklang, dachte man unwillkürlich an Bachs „Goldbergvariationen“. Karlheinz Stockhausen hat mit „Mantra“ ein Gegenstück dazu geschaffen. Ein Meisterwerk.

Rituale und Zeremonien

Das Motto „Rituale, Zeremonien, Aktionen und Symphonien“ bezog sich nicht zuletzt auf Stockhausens halbszenische Komposition „INORI“, mit der das Musikfest endete. Mit zwei imaginierten Ritualen, „Rituel in memoriam Bruno Maderna“ von Pierre Boulez und „Le Sacre du Printemps“  von Igor Strawinsky, beides gespielt von der Staatskapelle Berlin, hatte das Fest nach dem Debussy-Abend offiziell begonnen. Obwohl Daniel  Barenboim das Boulez-Stück und die kreisförmige Aufstellung der Orchestergruppen zu Beginn erläuterte, wirkte das Ganze eher monochrom. An einem anderen Abend dirigierte er im Boulez-Saal mit dem Boulez-Ensemble „Sur Incises“ für drei Klaviere, drei Harfen und drei Schlagzeuger. Diese 40-minütige Ausarbeitung eines bereits 1945 entstandenen kurzen Klavierstücks  faszinierte im ersten Teil durch die Verbindung von virtuoser Motorik und glitzernden Klangfarben, zerfaserte dann aber in eine schier endlose Reihe improvisatorischer Soli. Theodor W. Adorno hat die Boulez-Komposition „Le Marteau sans maître“ wegen der Prominenz eines bestimmten Instruments nicht ohne Häme als „L’après-midi d’un vibraphone“ bezeichnet. In dem Konzert des Ensemble intercontemporain unter Matthias Pintscher verblasste dieses bekannte Werk gegenüber den phantasievollen Verwandlungen einer winzigen Zelle von Tönen, ihrer Beschleunigung und enormen Verlangsamung, in „Vortex Temporum“ von Gérard Grisey.

Das Publikum liebt das Musikfest nicht nur wegen der reizvollen Programme, sondern auch wegen der Gegenüberstellung Berliner Klangkörper mit internationalen Gastorchestern. Während das Boston Symphony Orchestra unter Andris Nelsons bei Mahlers 3. Symphonie enttäuschte, überraschte das Rotterdam Philharmonic  Orchestra bei Bruckners 4. Symphonie durch seine hohe Qualität, was sich nicht zuletzt seinem scheidenden Leiter Yannick Nézet-Séguin verdankte. Die Berliner Philharmoniker brachten ihren composer in residence George Benjamin ins Programm ein. In dessen Orchesterstück „Palimpsests“ (1998–2002) erklingen gleichzeitig sehr unterschiedliche Klangschichten. Diese zunächst noch deutlich erkennbare Polyphonie verlor allerdings schnell an Prägnanz. Einleuchtender wirkte das gleichzeitig entstandene Klavierstück „Shadowlines“, das in der Matinee von Florent Boffard im Mittelpunkt stand. Im Untertitel spricht der Komponist von „Sechs kanonischen Präludien“, womit er die bei Bach getrennten Prinzipien von freier Form und kontrapunktischer Strenge vereinte. Dies ist wesentlich für Benjamins Musikdenken, war er doch nicht nur Messiaen-Schüler, sondern über seinen Lehrer Alexander Goehr auch ein Urenkel-Schüler Arnold Schönbergs. In den „Shadowlines“ sind beide Traditionen vereint. Benjamins Kammeroper „Into the Little Hill“, die das Mahler Chamber Orchestra unter Leitung des Komponisten konzertant aufführte (apart gekoppelt mit Schönbergs Streichsextett „Verklärte Nacht“), basiert auf dem Rattenfänger-Märchen. Die verführerische Macht der Musik tritt hier allerdings in den Hintergrund gegenüber dem Auftritt des „Volkes“, das die Ausrottung der Ratten fordert. Ein machtgieriger Politiker gibt diesen Forderungen nach und riskiert damit das Verschwinden der eigenen Kinder. Alle Personen der Handlung wurden von den zwei grandiosen Vokalsolistinnen Susanna Andersson und Krisztina ­Szabó dargestellt. Mit sparsamen Mitteln – zum Orchester gehören nur 15 Musiker – gelang Benjamin hier wirkungsvolles Musiktheater zu den aktuellen Themen Fremdenhass und Populismus.

Eine spannende Erfahrung bedeutete auch die Begegnung mit der prozesshaften, ständig zwischen Ton und Geräusch changierenden dreiviertelstündigen Orchesterkomposition „passage/paysage“ von Mathias Spahlinger, bei der Enno Poppe das Ensemble Modern Orchestra mit großen, oft rätselhaft wirkenden Dirigierbewegungen leitete. Vor der Pause waren in pausenloser Aneinanderreihung nicht weniger als sieben Webern-Kompositionen erklungen, was wohl die meisten Hörer überforderte. Dagegen erwiesen sich in dem von François-Xavier Roth flexibel geleiteten Philharmoniker-Konzert die in die „Images“ von Debussy attacca eingefügten Ligeti-Orchesterstücke als reizvolle Kontraste. „Lontano“ begann sogar in den gleichen Instrumenten, mit denen die „Gigues“ geendet hatten. Neuere und ältere Musik beleuchteten sich hier gegenseitig.

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