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Holz arbeitet: Mesias Maiguashcas „El Negro Bembón für Klavier, Holz-Klangobjekte und Elektronik“ Foto: Charlotte Oswald
Holz arbeitet: Mesias Maiguashcas „El Negro Bembón für Klavier, Holz-Klangobjekte und Elektronik“ Foto: Charlotte Oswald
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Immer mehr Musiktheater: Stuttgarts Éclat-Festival für Neue Musik

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Den künstlerischen Leiter des Éclat-Festivals, Hans-Peter Jahn, treibt das Musiktheater mächtig um: Kein Jahrgang ohne musiktheatralische Experimente. Zwar interessieren sich auch die Neue-Musik-Konkurrenten Donaueschingen oder Witten zunehmend für Kombinationen aus Musik und Szene, aber die Éclat-Veranstaltungen werden inzwischen von den Bemühungen um neue Formen eines „Musik-Theaters“ dominiert.

Vier „inszenierte Modelle“ standen diesmal auf dem Programm. Vier äußerst kontrastreiche Versuche, die Beziehungen zwischen Musik und Theater neu zu definieren, die tradierten ästhetischen Muster abzulösen, dem jeweiligen neuen Werk eine wie auch immer geartete künstlerische Autonomie zu sichern.

Hans-Peter Jahn ist auch ein Mann des Wortes. Wortreich beschreibt er im Programmbuch, was ihm zum Thema „Musiktheater“ alles  durch den Kopf geht. Aber was ist wirklich neu? Die französische Komponistin Betsy Jolas schrieb schon vor vier Jahrzehnten eine „Oper (nur) für Instrumente“. Man kann eine reine Musikkomposition als solche gleichsam auch inszenieren, ihr eine gestische Lebendigkeit und Anschaulichkeit verleihen. Viele von Mozarts Klavierkonzerten könnten als Beispiele dienen. Toben da nicht imaginär die Figuren seiner Opern durch die Noten? Musik wird zum unsichtbaren Theater.

Richard Wagner träumte, nachdem er in Bayreuth das unsichtbare Orchester installiert hatte, von einer ebenso unsichtbaren Szene. Die „Entrümpelung“ des Neuen Bayreuth nach dem Krieg durch Wieland Wagner bedeutete einen ersten Schritt in diese Richtung: Das Szenische wandelte sich zu Licht-und Farbräumen, in die die Musik eindringen konnte. Adolphe Appias Skizzen zu Wagners Musikdramen waren dafür das Vorbild: Abstrahierende Raum-Licht-Entwürfe. Wäre das vorstellbar: Eine „Tristan“-Aufführung in Bayreuth als unsichtbares Hör-Stück im dunklen Raum? Oder in einem Licht-Klang-Raum ohne Darsteller, mit den Stimmen aus dem „Off“? Gerade den „Tristan bezeichnet man gern als eine große Symphonie mit obligaten Stimmen. Dass im Konzertsaal so oft Vorspiel und Liebestod als Solo-Nummern erscheinen, weist ohnehin auf eine solche Möglichkeit des Abstrakt-Szenischen hin.

Man sieht also, dass auch die gute „alte“ Oper zumindest Ansätze bietet, um über die Wechselwirkungen zwischen Musik und Theater, Bild und Raum, Licht und Klangraum nachzudenken. Die Komponisten von heute experimentieren schon längst mit einer anderen Gestalt von „Oper“, von Musiktheater. Adriana Hölszky verzichtet in ihrer „Tragödia“ auf alles, was einst Oper ausmachte. Nur das Orchester spricht. Das Narrative, das Gesungene, bleibt der Phantasie des Zuhörers (Zuschauer?) überlassen. Bei der Uraufführung versuchte der Regisseur noch, durch szenisch-bildliche Accessoires den Eindruck einer Kriminalgeschichte zu erwecken – was falsch war. Auch bei Helmut Lachenmanns „Mädchen mit den Schwefelhölzern“ könnte man sich das Ausgemalt-Szenische der beiden bisherigen Aufführungen (Hamburg, Stuttgart) weggeblendet vorstellen. Eine konzertante Aufführung (in Frankfurt) hinterließ eher stärkere Eindrücke – wobei man natürlich nicht dagegen gefeit ist, sich die „Bilder“ der szenisch-bildlichen Produktionen in Erinnerung zu rufen.

Zwei weitere Beispiele: Matthias Pintschers  „Rimbaud-Oper“ bringt keine komponierte und gesungene Biographie des Dichters, sondern versucht, den „Geist“ des Dichters in Klänge zu übersetzen. Dieses gelingt Peter Ruzicka in seiner Celan-Oper ebenso, in seinem „Hölderlin“-Musiktheater nicht ganz so überzeugend. Dass pure Literatur-Veroperungen inzwischen eher problematisch erscheinen, konnte man zuletzt bei Philippe Boesmans „Yvonne, Prinzessin von Burgund“ in Paris konstatieren. Es spielt dabei natürlich eine Rolle, welches Potenzial ein Komponist besitzt. Hans Werner Henze kann durchaus noch „Literatur“-Opern schreiben, in denen die Musik sich autonom mit dem Text verbündet.

Zurück zu Éclat 2009: Wenn Verena Joos und Reinhard Karger in einer „erotischen Versuchsanordnung“ für zwei Schauspieler und Klavierduo unter dem Titel „Also dann“ das Endstadium einer Zweierbeziehung abbilden, dann dringt wieder so viel Realistisch-Psychologisches in die gespielten Szenen ein, dass man sich fragt, wo denn das „Neue“ in dieser Produktion sein soll. Doch nicht, weil zwei Pianisten auf zwei Flügeln (das hervorragende Grau/Schumacher-Piano Duo) eine Mozart-Sonate, vierteltönig gegeneinander „verstimmt“, in Zitaten zu den Situationen des Paares erklingen lassen. Das wirkt nur mehr schematisch und eindimensional. Und die zwei Schauspieler, die sich angestrengt bemühen, ihre Texte in plastische Gesten und sprechende Körperhaltungen umzusetzen, retten Verena Joos’ verbale Beziehungskisten auch nicht. Entsprechende Szenen bei Loriot sind entschieden knapper, präziser, sprachpräsenter formuliert. Musik dabei irgendwie überflüssig.

Hans-Peter Jahn wehrt sich gegen die Dominanz des Komponisten bei allem, was gegenwärtig im Musiktheater geschieht. Er nennt dabei Luigi Nonos „Prometeo“ (die Tragödie des Hörens), Lachenmanns „Mädchen mit den Schwefelhölzern“ und Hölszkys „Tragödia“.

Warum aber wehrt er sich? Dem so genannten „Sprech-Theater“ bleibt es doch selbst überlassen, sich neu zu definieren, neue Inhalte, Formen, eine andere Sprache zu erfinden. Das Musiktheater braucht doch nicht das Theater zu übernehmen, das sich ohnehin in einem eher desolaten Zustand befindet. Sprachmusik hat es übrigens schon vor einem halben Jahrhundert gegeben, man denke nur an Christopher Fry oder an Tardieus „Sonate für drei Herren“: gesprochene Kompositionen.

Mitunter gewinnt man den Eindruck, das Éclat-Festival versuche einen Amoklauf gegen das hergebrachte Musiktheater, ohne genau zu wissen, was Zukunft sein könnte. Doch nicht Daniel Kötters 8-Kanal-Videoperformance „Arbeit und Freizeit“, in der Akademie Schloss Solitude uraufgeführt. Vier Studenten, vier Künstler, die beim Eintritt des Publikums vor acht Bildschirmen sitzen, verlassen alsbald den Raum, um auf dem Videoschirm wieder aufzutauchen. Dort geht jeder seinen alltäglichen Verrichtungen nach, eine Frau putzt Gemüse für ein Essen, ein Künstler macht Stimmübungen, eine junge Studentin pflegt ihr Outfit und hört Musik und so fort. Die Musik ergibt sich aus den einzelnen Beschäftigungen. Auch Wagner ertönt.

Eine Zeitlang ist das recht hübsch anzuschauen, aber eine neue ästhetische Tiefendimension stellt sich nun wirklich nicht ein: Ein Fernsehspot – weiter nichts. Enno Poppes von der Münchener Biennale 2008 übernommene Bühnenmusik „Arbeit, Nahrung, Wohnung“ für vierzehn Herren nach einem Text von Marcel Beyer ist in der Ausformung eines eigenständigen Musiktheaters entschieden weiter vorangeschritten. Und auch das A-capella-Musiktheater, das von den Neuen Vokalsolisten Stuttgart zu Kompositionen von Elena Mendoza, José-Maria Sánchez-Verdú und Michael Hirsch entwickelt wurde, birgt erneuerte Substanz. Speziell Michael Hirschs „Tragicomedia“ für sechs Stimmen, nach „La tragicomedia de Calisto y Melibea“ von Felipe Benitez Reyes, überzeugte durch ihre kompositorische Stringenz, mit der sich quasi narrative Elemente der Dichtung und daraus sich ergebende Assoziationen zu einem dichten eigenständigen Werk verbinden. Die Sänger-Darsteller agieren dabei vor im Bühnenraum hängenden Bildschirmen, auf die Videoprojektionen geworfen werden. Die Aufführung gewann so auch optisch eine bemerkenswerte suggestive Kraft.

Die Musiktheater-Ambitionen des Éclat-Festivals schließen zum Vorteil für eine Musik pur das selbständige Musik-Kunstwerk nicht aus. Wobei sich, keinesfalls überraschend, oft herausstellt, dass das scheinbar autonome Musikstück ebenfalls höchst theatralische Wirkungen zu erzielen vermag. Wolfgang Rihms Steichquartette mit dem Titel „Fetzen 1–8“ sind solche Stücke gestenreicher, theatralisch aufgerissener Musik-Fetzen, von wunderbarer Beredtheit, die vom Leipziger Streichquartett und dem Akkordeonspieler Teodoro Anzellotti kompetent interpretiert wurden. Das Leipziger Streichquartett widmete ein Konzert auch den bisher fünf Streichquartetten Jörg Widmanns. Die differenzierten Charaktere der einzelnen Werke wurden plastisch herausmodelliert, etwas mehr virtuoser Glanz ließe sich denken. Juliane Banse sang im fünften Quartett den Sopranpart, eine Spur zu opernhaft.

Eine Uraufführung von Matthias Pintscher brachte das SWR Vokalensemble unter Rupert Huber. Aus dem Hohe Lied Salomos, dem „shir ha shirim“, entnahm Pintscher den Text des fünften Gesangs, das „She-cholat ahavah ani“, übersetzt: „So krank bin ich vor Liebe“. Pintscher benutzt den hebräischen Text, den er nun nicht irgendwie konventionell benutzt. Die Wortinseln, Bilder, Assoziationen werden quasi in Klang überführt, in einen Chorklang von höchster Subtilität und gleichsam erzählerischer Gestik. Das Vokal­ensemble glänzte mit seinem hohen Können, an Klangfarbigkeit war die Wiedergabe nicht zu übertreffen.

Mit Interesse verfolgte man auch einen Abend mit Werken des in Freiburg lebenden Komponisten Mesias Maiguashca. Maiguashca hat verschiedene Stücke für Holz-Klangobjekte geschrieben, die jeweils mit Schlagzeug, Elektronik oder Klavier zusammengebracht werden. Die Uraufführung von „El Negro Bembón“ für Klavier, Holz-Objekte und Elektronik hinterließ dabei den stärksten Eindruck – siehe unser Foto auf der vorangegangenen Seite. Etwas ursprünglich Magisch-Rituelles geht von diesen Klangerzeugungen aus. Auch das ist, irgendwie, theatralisch. In einen solchen Zusammenhang gehörten auch Walter Zimmermanns „Voces Abandonadas“ auf Texte von Antonio Porchia, die von den Wittener Kammermusiktagen mit dem Pianisten Nicolas Hodges übernommen wurden. Auch die Uraufführung von Johannes Kretz’ „KlangLogBuch“ für Klavier und Elektronik mit dem Pianisten Florian Hoelscher überzeugte durch theatralische Lebendigkeit: Eine Klang-Reise durch die Kontinente, nicht als folkloristische Unterhaltung, sondern konzentriert auf signifikantes Material der verschiedenen Musiken, das Einblicke in das jeweils „Fremde“ ermöglicht.

Eine pompöse Uraufführung bildete das Finale: Fünf Jahre arbeitete der Österreicher Bernd Richard Deutsch (Jahrgang 1977) an seinem „Martyrium oder Die Dinge sind“, einem, wie er untertitelt „Neurotischem Oratorium“. So kann man die Welt auch sehen und erleiden: als Hölle, Hundeleben, Widerspruch, als Idiot oder als Rhythmus der Einsamkeit – so einige der dreizehn Satztitel. Drei Solisten, das SWR Vokalensemble und das Radio-Sinfonieorchester Stuttgart, wieder unter Rupert Huber, sowie Videozuspielungen erstellten ein neunzigminütiges musikalisches Welttheater, dessen Anspruch höher war als dessen Erfüllung. Die Musiksprache von Bernd Richard Deutsch gewinnt nur punktuell jene Eindringlichkeit, die einem „Martyrium“ adäquat wären. Wie hieß es früher einmal: Kunst ist das Gegenteil von gut gemeint. Vielleicht erprobt der Komponist seine Möglichkeiten erst einmal an einem Zwanzig-Minuten-Stück.

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