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Cortez besteigt das Heiligtum (Karina Repova, Peter Felix Bauer, Maren Schwier). Foto: Andreas Etter
Cortez besteigt das Heiligtum (Karina Repova, Peter Felix Bauer, Maren Schwier). Foto: Andreas Etter
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Ins Symbolische überführt – Wolfgang Rihms „Die Eroberung von Mexico“ am Staatstheater Mainz

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Vor 504 Jahren brach der spanische Konquistador Eroberer Hernan Cortés von Kuba mit einer Flotten von 11 Schiffen und über 800 Mann Besatzung an die unbekannte mittelamerikanische Küste auf. Im Verlauf der Expedition wurden die Spanier vom aztekischen König Moctezuma II. in der Hauptstadt Tenochtitlán freundlich aufgenommen. Doch in den Folgemonaten wuchsen die Spannungen – auch innerhalb der aztekischen Bevölkerung. Es kam zu Kämpfen, zum Tod Moctezumas, zum Krieg der Azteken gegen die Spanier und deren einheimische Verbündete, zum Fall und zur Zerstörung von Tenochtitlán, zur Vernichtung des Aztekenreichs und zur Errichtung des Vizekönigreiches Neuspanien im Jahr 1535. Wolfgang Rihms 1992 in Hamburg uraufgeführte Oper „Die Eroberung von Mexico“ setzt diesen groben Rahmen voraus, hat aber mit den historischen Abläufen im einzelnen nichts zu tun. Am Staatstheater Mainz versteht und zelebriert man sie nun als eine Art szenische Meditation über unseren Begriff von „Eroberung“.

Wolfgang Rihm legt seinem Opernlibretto vor allem Antonin Artauds Dramenentwurf „Die Eroberung von Mexico“ zugrunde. Gleichzeitig ließ er sich von Artauds Vision eines „Theaters der Grausamkeit“ inspirieren – wobei dem französischen Schriftsteller nicht blutige Gräueltaten vorschwebten, wie sie die Kolonialgeschichte durchaus parat hat, sondern Grausamkeit im Sinne von Unerbittlichkeit, Entschlossenheit und Lebensgier. Wenn in Rihms Operntext immer wieder das Artaud-Zitat „Männlich. Weiblich. Neutral“ als vernehmlich deklamiertes Motto ertönt, so steht es wohl für den leidenschaftlichen Willen zur Überwindung von Polarität zugunsten von etwas Neuem, Verbindenden und Größeren. Indem Rihm Cortez und Montezuma (so seine Schreibweisen) als Bariton-Partie und dramatischen Sopran (das heißt eine „Hosenrolle“) einander gegenüberstellt, symbolisiert er eben jene Polarität, die nach Vereinigung strebt. Rihms „Die Eroberung von Mexico“ ist also kein Kolonialdrama, sondern eine Tragödie der wechselseitigen Anziehung, sei sie erotisch, sei sie kulturell. Artaud strebte auch danach, „die Unterwerfung des Theaters unter den Text zu durchbrechen und den Begriff einer Art Sprache zwischen Gebärde und Denken wiederzufinden.“ Entsprechend konstruiert Rihm eine lineare Handlung und ein lineares Textkorpus nur noch in Ansätzen, sondern sucht mit seiner Musik danach, was an unausgesprochenen Impulsen in und zwischen den Zeilen steht. Und wenn Rihm für seine Oper ein Raumklang-Konzept entwickelt, bei dem der Hörer zwischen den verschiedenen Orchestergruppen sitzt, so nähert er sich damit Artauds Vorstellung von der Abschaffung der räumlichen Trennung von Darstellern und Zuschauern zugunsten eines „Theaters der Aktion“.

Elisabeth Stöpplers Mainzer Inszenierung ist in der musikalischen-räumlichen Disposition sehr nah an Rihms Vorgaben. Im szenischen Ablauf bemüht sie sich um Stilisierung und vereinfacht die von Rihm ohnehin symbolisch konzipierte Handlung. Dabei gelingt ihr in den ersten beiden Akten bis zur Pause ein beachtlicher Spannungsaufbau, in dem Szene und Musik überzeugend aufeinander bezogen sind. Über eine Verbindungstür wird das Publikum aus dem Foyer des Großen Hauses auf die Bühne geleitet. Dort gruppieren sich drei Tribünen um einen geheimnisvollen, nach allen Seiten geschlossenen zylindrischen Bühnenaufbau; auf der vierten, freibleibenden Seite ist der Orchestergraben sichtbar. GMD Hermann Bäumer dirigiert den hier platzierten Teil des Philharmonischen Staatsorchesters Mainz; sein Dirigat wird auf Bildschirm übertragen, und es assistieren im Bühnenhintergrund links und rechts die beiden Theaterkapellmeister Paul-Johannes Kirschner und Michael Millard. Teile des Orchesters sind für die Zuhörer unsichtbar angeordnet. Lautsprecher oberhalb der Tribünen übertragen direkt erzeugte Klänge und elektronische Einspielungen. Im Laufe des Stückes wird auch eine Violinsolistin im Rang sichtbar. Das Ensemble und der Bewegungschor der Statisterie agieren rund um den zylindrischen Aufbau, zum Teil auch auf dem Aufgang der mittleren Tribüne. Das Publikum ist hautnah am Geschehen; die Abläufe scheinen perfekt zu funktionieren. Der Anfang entspricht genau den poetischen Vorgaben des Komponisten „Kontinuum eines sehr fernen, sehr leisen Schlagzeugklanges, das den Raum unortbar erfüllt. Die Melodie einer Landschaft, die das Gewitter kommen spürt. Beginnendes Zittern, Schatten durch die Lüfte“. Eine Begegnung der unheimlichen Art bahnt sich an.

Keuchend, zischend und hechelnd nähern sich dem Zylinder zwei Figuren, die Rihms Besetzungsliste leicht verharmlosend als „Sprecher“ führt; angemessener wäre die Bezeichnung Vokalartisten. Falko Hönisch und Frederic Mörth sind die Begleiter des Cortez, in diesem Fall sein Vortrupp. Ausstatter Valentin Köhler steckt sie in militärische Tarnkleidung und setzt ihnen einen Hunde- oder Wolfskopf auf. Das passt: Sie haben einen Riecher, wo es etwas zu entdecken gibt, sind hungrig auf Beute – und Cortez hündisch ergeben. Sie haben auch eine zivile Seite: Einer trägt eine Kamera um den Bauch, der andere hat einen Klappstuhl dabei – wie Touristen. Die historische spanische Expedition war ja auch beides zugleich, Entdeckungsreise und militärische Eroberung, und es war eine ganze Weile nicht ausgemacht, in welche Richtung das Pendel ausschlagen würde. Ebenso wenig war klar, ob die Spanier unerwünscht oder willkommen waren. Stellvertretend für die freundliche Aufnahme findet man in Rihms Personenverzeichnis die stumme Rolle der Malinche; als historische Figur war sie eine aztekische Sklavin der Maya und wurde nach ihrer Befreiung  Cortez’ Dolmetscherin und später einflussreiche Geliebte: Bei Rihm ist sie nur ersteres. Regisseurin Elisabeth Stöppler lässt sie ganz weg zugunsten einer klareren Polarität. Den zwei Begleitern des Cortez stehen ja ohnehin die beiden Begleiterinnen des Montezuma gegenüber, eine mit sehr hoher Sopran-, eine mit Altstimme. Auch diese Partien stellen einen nahezu artistischen Anspruch, aber sie transportieren zugleich den Zauber des Sängerischen, der den Männern abgeht. Sophia Körber (alternierend: Maren Schwier) und Karina Repova stecken in charmanten pinken Uniformen, die an Stewardessen oder altertümliche Show-Assistentinnen erinnern.

Tatsächlich veranstalten sie auch so etwas wie eine Show. Erst muss eine verhüllende Abdeckung abgestreift werden, bevor der Blick auf eine Art Skulptur im Metallkäfig über der Drehscheibe frei wird. Auf einem meteorhaften Gesteinsbrocken thront eine mit einem weißen Laken verhüllte Skulptur. Man assoziiert eine Art Heiligtum nach Art der Kaaba in Mekka oder einer aztekischen Pyramide. Erst nach einer Weile fällt das Laken, und wir erblicken Nadja Stefanoff als Montezuma im Schlafanzug. Er/sie fängt an sich zu rühren und in Vokalisen zu singen; erst danach verlässt er/sie den Felsen und blickt in einer Mischung von Neugier und Besorgnis auf die Eindringlinge hinter der Käfigwand. Gegenüber seinen gegenwartsnahen Begleitern ist Cortez (Peter Felix Bauer), als er sich mit Rüstung und Schwert aus dem Hintergrund den Weg bahnt, von geradezu altmodischer Ritterlichkeit. Cortez und Montezuma beäugen sich eine Weile. Dann fährt der Metallkäfig hoch, das Heiligtum wird zugänglich, Montezuma setzt seine Krone auf, Cortez nähert sich, und es gibt eine zeremonielle Begrüßung, bei der Rihm den Tonfall höfischer Barockmusik anklingen lässt. Beide finden schließlich zu (manchmal rätselhaften) Worten und zunehmender Nähe. Rüstung und Oberbekleidung werden abgelegt. Aus den Gesangspartien vernimmt man aufkeimende Leidenschaft. Das Begleitpersonal kommt sich noch schneller näher, räumlich und dann auch körperlich. Es gibt zwei Momente der Irritation, als Cortez in einer kurzen Tirade die Jungfrau Maria gegen den Aztekenkult ins Feld führt und als Montezuma Goldgier vermutet, doch diese Phasen sind rasch überwunden. Komplettiert wird die Besetzung durch den vorläufig unsichtbaren „schreienden Mann“ als Stimme aus dem Off; in puncto Ausdruck kompensiert er durch Lautstärke, was die weiblich-aztekische Seite an dreifachem Gesangspotential voraus hat. Mit anderen Worten: Was ihnen an Zauber und Poesie fehlt, ersetzen die Männer durch Kraft. Doch mit „Männlich. Weiblich. Neutral“ beschwören beide Seiten ein Verbindendes, was stärker sein könnte als sie beide.

Wolfgang Rihm hat zwischen dem zweiten und dritten Akt keine Pause vorgesehen; dass man in Mainz dennoch eine solche einschiebt, hilft der Aufnahmefähigkeit und -bereitschaft des Publikums, das sich nach einer halben Stunde nahezu vollständig wieder versammelt. Das lange Intermezzo erlaubt zugleich einen aufwändigen Bühnenumbau. Danach bietet sich ein ernüchterndes Bild: Der zylindrische Turm ist mitsamt dem Felsbrocken verschwunden. Die Bühne steht voller Möbel und Haushaltsgeräte vom Bett bis zur Stehlampe, vom Elektroherd bis zur Waschmaschine. Azteken und Spanier beiderlei Geschlechts sind in gleichförmige hautfarbene Kostüme gezwängt, betätigen sich im Haushalt oder dösen gelangweilt herum. Zwei abgeschlagene, teils blutige Wolfsköpfe bezeugen die resolute Domestikation jeglicher Wildheit. Montezuma und Cortez liegen schlafend nebeneinander im Bett. Auf persönlicher Ebene scheint die eben noch ersehnte Verbindung in alltäglicher Routine erstarrt, auf kultureller Ebene mündet sie in die simple Verbreitung westlichen Lebensstils, man könnte auch sagen: in die Verwechslung von wirklicher Lebensqualität mit ökonomischem Lebensstandard. Doch in der Musik grummelt, rumort, lärmt und schreit es. vernehmlich. Montezuma wacht auf und wandelt grübelnd im einstigen Palastterrain umher. Die Azteken werden nervös, Cortez und die Spanier auch. Beide Seiten sind optisch kaum unterscheidbar, die Situation ist unübersichtlich, Textbuch und Bühnengeschehen klaffen hier auch auseinander. Die Eskalation als solche ist aber unverkennbar. Und dann führt Doğuș Güney, zuvor noch der „der schreiende Mann“, einen verhängnisvollen Schlag gegen Montezuma.

Anders als bei Rihm stirbt Montezuma hier nur einen symbolischen Tod; er/sie tritt schlicht ab und verlässt die Bühne. Cortez aber ist außer sich; den Totschläger erstickt er mit einem Kissen und verfällt dann in stille Trauer und hilflose Gesten der Reue. Im letzten Akt senkt sich gar der Metallkäfig über ihn. Der Eroberer ist nun selbst gefangen und singt, unterstützt von Montezumas Begleiterinnen, seine Trauer hinaus. Ganz am Ende findet sich Peter Felix Bauer dann doch noch einmal im Duett mit Nadja Stefanoff, die gelöst und mit offenen Haaren den Turm umkreist. Beide zusammen besingen mit einem Gedicht von Octavio Paz „unerschöpfliche Liebe, der Tod entströmt“ – wobei man nicht weiß, ob das nun Verzweiflung oder Hoffnung ausdrücken soll. Aber womöglich ist diese Ambivalenz ja gerade Absicht. Indem Elisabeth Stöppler die in Rihms Szenario durchaus noch vorgesehenen Kampfhandlungen zwischen Azteken und Spaniern weglässt und damit die Gegensätzlichkeit der beiden Pole abmildert, überführt sie „Die Eroberung von Mexico“ noch stärker ins Symbolische. Szenisch ergibt sich daraus gegenüber dem präziser durchchoreographierten Anfang ein spürbarer Spannungsabfall, den man den bis zum Ende großartigen Sängerdarstellern und Instrumentalisten (beiderlei Geschlechts) nicht anlasten kann. Aber die Regisseurin öffnet das Stück damit für die aktuellen Gegenwartsfragen von Krieg und Kolonialismus, Identitäts- und Genderdiskussion. Wie kann so etwas gelingen: Verzicht auf Schwarzweißdenken, Rücksichtnahme auf menschliche Verletzlichkeit, Begegnung statt Aneignung?

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