Innerhalb eines Monats stemmte das Brandenburger Theater gleich zwei ambitionierte Musiktheater-Premieren. Das Besondere daran: Seit der Abwicklung des Mehrspartentheaters gibt es dort keine eigene Musiktheater-Sparte mehr. Doch das will der neu künstlerische Leiter Frank Martin Widmaier jetzt allmählich und nachhaltig ändern. Nach der umjubelten Eigenproduktion von Gerd Natschinskis Musical „Mein Freund Bunbury“ zeigen die Brandenburger Symphoniker mit dem Ensemble Quillo, das 2018 die Kammeroper „Ahead of Struwwelpeter“ bei Irene Dische und David Robert Coleman in Auftrag gab, dass sie ein erstklassiges Theatergen haben.
Den Struwwelpeter aus dem Kinderbuchklassiker des Kinderpsychiaters Heinrich Hoffmann erkennt man auf der Bühne des Theaters Brandenburg vor allem an der löwenartigen, gewaltigen Blondmähne. Es ist wirklich fast alles anders in der Adaption Irene Disches und David Robert Colemans polystilistischer Partitur mit ihrer ultimativ wirkungsstarken Akkumulation musikalischer Axiome von Richard Strauss und Tom Waits, Steve Reich und Hardrock. In Hinblick auf den Unterhaltungswert geriet Irene Disches Aktualisierung der Episoden dem Original mit dem hochgereckten pädagogischen Besserungsprügel ebenbürtig, selbst wenn dieses hinter dem kreativen Eigenpotenzial Disches fast verschwindet. Die Autorin greift Charaktereigenschaften von einigen der unartigen Kinderfiguren Hoffmanns auf und wirft sie in einer durchgängigen Handlung zusammen. So wird aus Struwwelpeter, den der Sozialbetreuer Dr. Hoffmann (Hubert Wild) in eine von Wohlstandsgebrechen heimgesuchte Upperclass-Familie unterbringt, zum Flüchtlingskind. Er hat das Herz auf dem rechten Fleck, um ihn sind alle krank: Christian Oldenburg springt dabei von der Partie von Pflegevater Hunter, der an sozialen Phobien leidet, in die des gegen Migranten wetternden bösen Friedrich. Die repräsentative Mutter wird zur Reinkarnation von Zündel-Paulinchen (Lena Haselmann) und steckt versehentlich den Teppich in Brand. Den Suppenkasper modellierte Dische um zum Töchterchen Casparina mit Essstörung (Soniá Grané). Überraschungscoup am Ende: Struwwelpeter kommt nicht, wie erst gedacht, aus einer Familie mit kriminellem Hintergrund, sondern steht auf gleicher sozialer Herkunftsstufe wie seine Zieheltern. Struwwelpeter lässt nur deshalb keine andere Hand an seinen Kopf, weil er sich die Erinnerung an die liebevollen Berührungen seiner jetzt verschwundenen Mutter, die ihm früher die Haare schnitt, bewahren will. Schließlich adoptiert ihn Dr. Hoffmann selbst in der Hoffnung, dass auch Flüchtlingskinder eine gute Zukunft haben sollen: Der Zustand „Struwwelpeter“ also als Ausgangspunkt, nicht aber als verhaltensauffällige, abschreckende Endstation.
Irene Dische will keine realistische, sondern eine prototypische Handlung. Eigentlich ist ihr Struwwelpeter ein Engel, der den Menschen in seiner Gastfamilie allmählich klarmacht, dass es verschiedene Formen von Freiheit gibt. So platzt er herein wie die Lichtgestalt in die Großindustriellen-Familie aus Pasolinis „Teorema“. Nur ist hier der Eklat, dass sich alle Vorurteile bei Bekanntgabe von Struwwelpeters Identität als unzutreffend erweisen. Sofia Smitzis führt die Figuren in einem von selbstregulierenden Direktiven bestimmten Korsett vor. Das ist zwar extravagant wie Casparinas neo-waviges Outfit und das von Paulina fast immer mitgeführte Telefon in Form eines Hummers, aber letztlich steril und monoton. Der schwarz gekleidete Struwwelpeter bringt Farbe in die Beziehungen und manchmal sogar Rosenkavalier-Klänge in die Musik. Inga Timm gelingt es, mit wenigen Accessoires und viel freier Fläche die Ödnis des arrivierten Lebens einzufangen. Heta Multanens Videos dahinter zeigen Struwwelpeter auch im Brandenburger Land und allerlei Drastisches in Schwarzweiß – wie es sich für eine gelungene Performance gehört.
Colemans Musik gibt sich dazu mit gewinnender und virtuos instrumentierter Geschmeidigkeit, das Ensemble Quillo erhielt durchweg solistisch exponierte Aufgaben. Unter Max Renne stellen sich die Brandenburger Symphoniker klang- und lustvoll diesen Herausforderungen. Coleman kann ausgezeichnet für Stimmen komponieren, gerade weil er neben guter Diktion und einer zwar komplexen, doch ohne extreme Anspannungen zu meisternden Sanglichkeit kaum außergewöhnliche Ausdrucksmittel einfordert. Das ist Neue Oper zum Genießen mit dankbaren Aufgaben für das Ensemble, für dieses allerdings verbunden mit großer Verantwortung. Denn es bedarf starker Bühnencharaktere, um in diesem suggestiven Mix der Stile und deren mehrfach berückender Nähe zu Richard Strauss‘ Sopran-Zaubereien zu bestehen. Einige musikalische Passagen sind fast noch süßer als die Lakritzschlangen, zu deren verbotenem Genuss Struwwelpeter Casparina verlockt. Die Regisseurin Sofia Simitzis kann sich auf ihren Struwwelpeter-Darsteller verlassen: Der Countertenor Nicolas Ziélinski ist gewitzt, etwas verschmitzt, sehr schlau und hat, nimmt man noch die stratosphärisch-virile Höhe dazu, unter der blonden Mähne schon beim ersten Auftritt alle Eigenschaften zum Wunschschwiegersohn.
So wird diese neue Kammeroper zu bestechend homogener Instagram-Poesie: Perfekte Farben, perfekte Klänge und politisch korrekte Haltung. Ein Vorzeigestück par excellence.
- AHEAD OF STRUWWELPETER Kammeroper von David Robert Coleman und Irene Dische. Ein Projekt von Ursula Weiler & Ensemble Quillo in Kooperation mit dem Brandenburger Theater und der Northern Ireland Opera Belfast, gefördert von der Kulturstiftung des Bundes – Librettist: Irene Dische - komponist: David Robert Coleman – Vorstellungen: 30.10. und 1.11. Brandenburger Theater / 08.11. Kleist Forum Frankfurt – 14.11.: Uckermärkische Bühnen Schwedt, 2020: Vorstellungen an der Northern Ireland Opera (Besucht: Orchesterhauptprobe am 28.10.)