Regine Müller besuchte das Holland Festival. Bei der Aufführung von Aftab Darvishis erwartete sie „ein gut verdaulicher, gemessen dahinfließender Klangmix an, der im weitesten Sinne orientalische Klänge, westlich weichgespült mit befremdlich anmutenden Originalzitaten aus Puccinis ‚Turandot‘ mixt“. Was das alles mit „kultureller Aneignung“ und ästhetischer Affirmation zu tun hat, lesen Sie in ihrer Kritik im Detail.
Kritik an kultureller Aneignung ist derzeit in aller Munde. Dabei ist das Phänomen, alte Geschichten neu zu erzählen und ins eigene Umfeld zu transferieren, Bräuche, Sprach-Partikel und Moden naher und ferner Länder zu übernehmen so alt wie die Welt und ohne Zweifel ein Grunddatum des menschlichen Miteinanders. Dass Übernahmen ebenso freundlich wie feindlich ausfallen können, ist eine ebenso uralte Erkenntnis. Neueren Datums ist aber eben der derzeit allgegenwärtige Drang, die Geschichten kultureller Aneignung lückenlos aufzudröseln und kritisch zu hinterfragen. So passt es perfekt in den aktuellen Diskurs, dass beim Holland Festival eine neue Version des Puccini-Hits „Turandot“ auf die Bühne kam, deren Titel „Turan Dokht“ unverhohlen auf Puccini Bezug nimmt und die tatsächlich auch musikalisches Material Puccinis verarbeitet.
Obwohl „Turan Dokht“ im 5. Jahrhundert in Persien spielt. Oder besser gesagt, in Turan, denn eigentlich bedeutet „Turan Dokht“ „Tochter aus Turan“ und verweist auf das Tiefland von Turan in Mittelasien. Der Begriff Turan stammt aus der iranischen Mythologie und wurde später als Urheimat aller Turkvölker betrachtet. „Die Geschichte von den Rätseln der Turandocht“ tauchte um 1197 im Epos „Haft Peykar“ des persischen Dichteres Nizami Ganjavi (1140 bis 1209) auf. Der Stoff der mysteriösen Prinzessin ist also ursprünglich nicht in China beheimatet, wo Puccinis letzte Oper spielt, sondern eben in Mittelasien.
Nun versucht sich der iranisch-niederländische Komponist Aftab Darvishi gemeinsam mit der niederländischen Regisseurin Miranda Lakerveld mit „Turan Dokht“ an der „interkulturellen Umschreibung“ (intercultural rewriting) von „Turandot“ mit dem Ziel, die historische Ungenauigkeit zu korrigieren.
Im kleinen Saal des Amsterdamer Muziekgebouw sind die zwei Zuschauertribünen an zwei Seiten der dreieckigen Bühnenfläche aufgebaut. An der Rückwand prangen Projektionen von orientalischen Ornamenten, Tierkreisen und Sternzeichen, angelehnt an die Original-Miniatur-Illustrationen von „Haft Peykar“. Die beiden kleinen Instrumental-Ensembles sitzen zunächst im Halbdunkel. Die um die chinesischen Grausamkeiten reduzierte Kernhandlung ist in der persischen Original- bzw. der heutigen Neufassung umgeben von einem poetischen Rahmen, in dem es um die heilige Zahl sieben geht, die Harmonie symbolisiert: Sieben Schönheiten, aus deren Reihe der namenlose Prinz seine Frau wählen will, sieben Kontinente, sieben Planeten und sieben Farben. Im Prolog erscheinen diese sieben Frauen, ein Fluch bringt sodann die Planeten aus ihrem Gleichgewicht, die Harmonie zwischen den zwei Seelen (Prinz und Turan Dokht?) sollen das Gleichgewicht wieder herstellen, aber bei den Rätselfragen an den Prinzen geht es nicht um Leben und Tod, sondern um Selbsterkenntnis und Tugend.
All’ das wird auf der Bühne eher abstrakt als konkret geschildert. Die Darstellerinnen, darunter auch agierende Musikerinnen bewegen sich meist tänzerisch choreografiert, auch der Prinz ist Teil dieses gemessen rhythmischen szenischen Arrangements.
Komponist Aftab Darvishi arbeitet mit einem Kammerorchester (überwiegend Streicher) und ergänzt das Ensemble mit traditionellen iranischen Perkussionsinstrumenten und einer Kamancheh (traditionelles Streichinstrument).
Die ersten Höreindrücke des Abends sind avantgardistisch karg, von den Treppen des Rangs steigen Musikerinnen und Darstellerinnen vereinzelt herab und hauchen Sprechgesang und isolierte Töne in den Saal. Doch dann findet sich das Instrumental-Ensemble und die Sängerinnen/Sprecherinnen erreichen die Bühne und nun hebt ein gut verdaulicher, gemessen dahinfließender Klangmix an, der im weitesten Sinne orientalische Klänge, westlich weichgespült mit befremdlich anmutenden Originalzitaten aus Puccinis „Turandot“ mixt. Während Puccini chinesisches Klangkolorit in seine letzte Oper montierte, bedient sich Darvishi aus traditionellen Klängen orientalischer Musik, gemäßigt heutigen Tönen und italienischen Ohrwürmern aus Puccinis Oper. Die Gesänge der Turan Dokht (Ekaterina Levental) und des Prinzen (Arash Roozbehi) nähern sich klassischer opernhafter Stimmgebung, obwohl sie via Mikroport verstärkt werden, das Sänger- Sprecherinnen Trio (Sarah Akbari, Niloofar Nedaei, Tahere Hezave) setzt dagegen eher auf repetierend gradlinige Stimmgebung, die dem Sprechgesang näher ist als der Arie. Das Ganze ist hoch präzise arrangiert, Siavash Naghshbandis Videos sind geschmackvoll, das Nilper Orchestra spielt akkurat und stilsicher zwischen den Welten. Und doch wirken sowohl die erstaunlich leichtgewichtige, sämig bekömmliche Tonspur als auch die folkloristische Buntheit des Geschehens, die den rituellen Grundgestus der Inszenierung durchkreuzt insgesamt beliebig und oberflächlich. Und dazu auch noch seltsam affirmativ.