Geschichte ist ungerecht. Was heute Zentrum ist, ist morgen Peripherie. An den Rand gedrängt. Ein Schicksal, das auch dem Erzgebirge, dort wo Sachsen Tschechien berührt, nicht erspart blieb. Jetzt soll ein vom Freistaat ehrgeizig protegiertes „Musikfest Erzgebirge“ als Nachfolger des mangels unklarer Perspektive 2008 eingestellten Alte Musik-Festes im jährlichen Wechsel mit den „Silbermann-Orgeltagen“ verlorenes Terrain zurückgewinnen helfen. Die erste Ausgabe ist gelaufen. Ein Start, der ordentlich war – und Fragen offen ließ.
Wenn der erste Zug übers ganze Spiel entscheiden würde, hätte Hans-Christoph Rademann schon gewonnen. Sein Trumpfass jedenfalls hat er gleich zu Beginn gespielt: H-Moll-Messe mit Herreweghes vorzüglichem Genter Orchester nebst Collegium Vocale in – St. Georgen zu Schwarzenberg, seiner „Heimat“ wie der Festival-Intendant im Nebenberuf betont. Hier, im Inspirationsraum einer Hochleistungskantorei, eines aufopferungswilligen Collegium musicum, eines kirchenmusikalischen Elternhauses sind seine Wurzeln – und die seines Musikfestes. Dass er sie im Programm sichtbar macht, gehört zum Charme, zu den Stärken dieses Festivals. Alleinstellungsmerkmal, würde man marketingmäßig dazu sagen. Eröffnungs- und Schlusskonzert flankieren musikalische Festgottesdienste. Keine Frage: Der
Konzertort Kirche
auf den Rademann setzt, ruht auf dem Verkündigungsort Kirche. Damit nicht genug. Ein „Erzgebirgisches Sängerfest“ mit einem stattlichen Favoritchor aus elf Kantoreien der Region gehört auch dazu. Ebenso freilich der Umstand, dass es gehöriger Überredungskünste bedurfte, Händels „The Messiah“ in englischer Originalsprache auszuführen. So sehr die alte Zuschreibung vom „sangesfrohen Völkchen“ der Sachsen zutreffend ist – die Leute im Umkreis von Aue und Schwarzenberg, Zschopau, Oelsnitz, Geising und Grünhain-Beierfeld tun sich mit Rademanns entschlossener Öffnung in Richtung internationalem Musik-Europa noch schwer. „Wagenburgmentalität“ sagt Rademann dazu, lächelt verständnisvoll und blickt trotzdem voller Zuversicht in die Zukunft eines Festivals, das im Biennalerhythmus mit den 2011 erstmals zu veranstaltenden Freiberger „Silbermann-Orgeltagen“ alternieren soll.
Seine Hoffnung ist nicht unbegründet. Immerhin wird ihm von seinen zehn Musikfest-Konzertorten Volles Kirchenhaus! Gemeldet. Und was die Politik angeht, so hat man mit dem Präsidenten des Sächsischen Landtags und dem Landrat des Erzgebirgkreises überdies entschiedene Fürsprecher und in einer „Ostdeutschen Sparkassenstiftung“ bereitwillige Sponsoren gefunden. Was beileibe nicht immer so war. Es gab Zeiten, da bedeutete man dem visionären Festival-Intendanten, dass die Reihe der Bittsteller lang und Hintenanstellen Usus sei. Da war er zwar schon ein erfolgreicher Chordirigent, hatte mit seinem 1985 gegründeten Dresdner Kammerchor längst eine Spitzenposition erobert – doch erst die Beförderung an die Spitze des RIAS Kammerchors muss den „Entscheidungsträgern“ in Dresden und anderswo das Einsehen erleichtert haben.
Dass mit dem Musikfest Erzgebirge ein Festival von europäischem Zuschnitt und Format entsteht – dieses Bewusstsein ist, vorsichtig formuliert, noch im Aufbau begriffen. Noch ist viel Unsicherheit im Spiel. Noch verleiht der Landrat an wehrlose Künstler wie Philippe Herreweghe einen „Picus“ – das von ihm gestiftetes „Festival-Maskottchen“ in Gestalt eines singenden Weihnachtsmannes. Das rot lakierte Holzpüppchen, mit viel Liebe in der „Drechslerei Breitfeld“ hergestellt, ist „nicht im Handel erhältlich“ sagt der Politiker und ist stolz darauf. Noch ein Alleinstellungsmerkmal.
Mehr als ein Kreis
Derweil ist Rademann schon weiter. Dass er sein vorzügliches Musiker-Netzwerk aktivieren kann, reicht ihm indes bei weitem nicht. Dabei hat allein dies die Gemüter schon in Aufregung versetzt. Sei es, dass Rademann selbst mit seinen Dresdnern Johann Adolf Hasses C-moll-Miserere und C-Dur-Requiem, vielleicht mit etwas zu repräsentativem Gestus aufgeführt hat. Sei es, dass die brillanten, tief berührenden Thomaner unter einem hochengagierten Georg Christoph Biller ein umjubeltes Bach-Kuhnau-Schein Motetten-Konzert gegeben haben. Wahrlich große Weltkunst im kleinen Hohndorf, wo die örtliche Lutherkirche inmitten von Kuhweiden und geschaftelnden Freizeitbastlern die wichtigste Erhebung darstellt. Der brummende, bierselige „Sachsen-Tag“ jedenfalls, der parallel die Massen mobilisierte, weiß davon nichts.
Ein Umstand, der Hans-Christoph Rademann wenig bis gar nicht berührt. Was ihn umtreibt ist etwas anderes. Wie ist es zu schaffen, so seine Frage, seinen Künstlerpartnern, den Herreweghes, den Savalls die Musik der sächsisch-böhmischen Komponisten wie etwa Jan Dismas Zelenka schmackhaft zu machen? Womit tatsächlich die Richtung gewiesen wäre. Denn die Grenze, die heute über die Höhen des Erzgebirges läuft, ist historisch gesehen von untergeordneter Bedeutung. Karlovy Vary, Karlsbad, liegt näher an Schwarzenberg als Chemnitz und Freiberg. Womit denn auch die Aufgaben benannt wären für ein Musikfest, das – Böhmen immer im Sinn – dem Erzgebirge und nicht nur einem Erzgebirgkreis verpflichtet sein will. Wieder ist Perspektive gefragt.