Anja Silja, die große Interpretin einer der Hauptrollen, feierte soeben ihren 85. Geburtstag. In einem großen Fach-Magazin gab sie ein recht einseitiges Interview und sagte zur derzeitigen Szene: „Was heute als ‚Regie‘ gepriesen wird, sind hauptsächlich Bilder – unverständlich den Werken gegenüber und dem, was die Komposition musikalisch aussagt und beschreibt.“ Leider bestätigte dies die Münchner Neuinszenierung.

Káta Kabanová | Premiere am 17. März 2025. Foto: © Geoffroy Schied
Janáček muss Tango tanzen – „Káťa Kabanová“ wird im Münchner Nationaltheater fragwürdig modernisiert
Offener Vorhang zu Beginn: im bühnenweiten Einheitsraum, einem hellbeige laminierten Gemeindesaal einer post-sowjetischen Kleinstadt tanzen etwa zehn Paare zu leise zugespielter Musik gekonnt Tango. Dann setzt das unruhige Pochen von Janáčeks Nervenmusik ein. Hinten im Saal steht eine Juke-Box und zum anschwellenden Klopfen der Pauke vollführt Káťa ein bisschen Pop-Getanze. Das wird per Videokamera vor ihr auf die Rückwand vergrößert. Zum Aufwallen der Orchestermusik ist Káťa nach links gegangen und eine weitere Kamera projiziert ihren Kopf unter blubberndem Aquariumwasser auf die Rückwand. Um die zentral wichtige Wolga zu beschwören, kommt Kudrjáš im Neopren-Tauchanzug mit Flossen hereingetapst. Während des ganzen weiteren Ablaufs blinkt hinten an der Saalwand ein Flipper-Automat mit seinen wechselnden Leuchtspielen, natürlich arrhythmisch zu Musik und Gesang. Die nächste Szene soll ja die provinzielle Enge von Káťas Ehe mit Schwiegermutter Kabanicha und dem fast willenlos unter dem mütterlichen Kuratell stehenden Sohn Tichon zeigen. Dazu fuhr ein aufklappbarer Kasten als Wohnzimmer aus der Rückwand: von entsetzlicher Tapete umgeben darin nachgemachte Stilmöbel, ein großer Flachbild-Fernseher und nach hinten zwei bodentiefe Fenster mit Blick auf eine milchglashelle „Mineral Bar“ mit Chrom-Barhockern – was das Kabanichá-Gebot, nicht aus dem Fenster zu schauen, ad absurdum führt. Im Fernseher läuft kurz ein wüstes B-Movie mit sich überschlagenden Autos, dann liegt eine junge Frau blutüberströmt tot da – im gleichen roten Kleid wie Káťa – und sie, ihre Freundin Varvara und die Kabanichá lachen amüsiert. Für die nächtlichen Liebesszenen singt Kudrjáš ja ein folklore-nahes Liedchen – wozu ein fast professionell wirkendes Paar im Spotlight erneut Tango tanzt. Als dann Varvara singend hinzutritt sind zwei Mikrofone an den Orchestergraben gestellt und beide liefern so etwas wie ein Tik-Tok-Auftrittchen. Doch die umgebende Natur für die verbotenen Liebesnächte und die mehrfach hörbar komponierte Wolga, in die sich die junge Káťa am Ende stürzt, sollen ja mitspielen. Die muss Warlikowskis Vertrauter Kamil Polak per Video „beschwören“ oder „hereinholen“.
Kann die endlos auf der Rückwand „strömende“ Blumenwiese für Káťas Abschied vom Liebhaber Boris noch überzeugen, so ist mit einem Spielzug ein absoluter Tiefpunkt erreicht: Am Ende der Liebesnacht steht Bori hinten in der kleinen offenen „Toilet“ breitbeinig vor einer Kloschüssel und pinkelt … Dass er dann gesichtslos mit einer weißen Maske seinen Abschied singt, rettet nichts. Eine von Káťa selbst nach vorne getragene Videokamera vergrößert zwar ihr Mienenspiel groß auf die Rückwand – nur eben mit der Mikro-Verzögerung einer Übertragung zur Live-Szene vorne – und als sinnentleerte Steigerung hinten mit einer Verdoppelung ihres Kopfes mit nochmaliger Verzögerung – also dirigiert Marc Albrecht vorne live Orchester und Solistin – dazu gibt es dann miniverzögert das erste Videobild und daneben ein drittes … drei „Tempi“ ineinander … armer Dirigent oder armer Janáček?!
Leider rettet das Finale nichts: Káťa rollt sich an den Orchestergraben als Wolga und bleibt mit ausgestreckten Armen liegen – die Projektion von ertränkend wallenden Wasserfluten hinten bleibt hanebüchen schlicht – und zu den letzten Takten treibt eine Káťa angenäherte große Puppe im dann ruhigen Wasser – mit angelegten Armen … Ob ein Video-Student der benachbarten Theaterakademie damit eine Prüfung bestehen würde?
Ansonsten hat Regisseur Warlikowsky die Handlung ohne erkennbare Handschrift inszeniert. So blieb nur Trost aus Musik und Gesang. Dem ergrauten Publikum sind wohl Rafael Kubeliks Dirigate von „Jenufa“ (1970 ff, Ton- und TV-Aufzeichnung im Archiv des Bayerischen Rundfunks) und „Aus einem Totenhaus“ (1976) als monumentale Interpretationen in Erinnerung. Paul Daniel konnte 1999 mit „Káťa“ beeindrucken. Die Gründe für den Wechsel von Dirigentin Mirga Grazinyte-Tyla zu Marc Albrecht wurden nicht genannt. Er lieferte eine gute Interpretation, in der die nervöse Anspannung, das kurze, melodiös glühende Aufblühen und die herben Umbrüche hörbar wurden. Von den Solisten konnte Violeta Urmanas Kabanichá mit allzu schriller Höhe am wenigsten überzeugen. Alle übrigen Stimmen – etwa Pavel Černochs nicht zu sehr auftrumpfender Boris, Emily Sierras lockere Varvara, John Daszaks gezielt verdruckt-schwächlicher Tichon für alle anderen – klangen staatsopern-gerecht sehr gut.
Bewegend überragte Corinne Winters in der Titelrolle alle: dass diese unglücklich verheiratete, träumerisch sensible, emotional überreiche junge Káťa in den Tod geht, weil sie die verlogen religiösen Moralmaßstäbe der rigiden Kaufmannsgesellschaft so sehr verinnerlicht hat, dass sie mit der „Sünde“ ihrer gelebten Liebe zu einem anderen nicht leben kann – das hat Winters mit einem Menschenformer wie Barrie Kosky 2022 in Salzburg singulär erarbeitet (auf DVD greifbar) – und diese innere Glut, die nur kurz aufleuchten darf, diese Brüche zwischen Zwang und Expressivität konnte sie in Janáčeks einzigartiger Sprachmelodie sicht- und hörbar machen: anrührend, bewegend, erinnernswert.
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