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Karl Mays Leben in einem Zwölf-Stationen-Drama: Julian Arsenault mimt den betagten May. Foto: Matthias Creutziger
Karl Mays Leben in einem Zwölf-Stationen-Drama: Julian Arsenault mimt den betagten May. Foto: Matthias Creutziger
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Kaleidoskop eines Realitätsverlusts

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„Karl May, Raum der Wahrheit“ von Manos Tsangaris und Marcel Beyer, uraufgeführt an der Dresdner Semperoper
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Karl May auf der Bühne? Aber gewiss, das gibt es in Bad Segeberg, das gibt es beim Elspe-Festival und sowieso auf der Felsenbühne in Rathen. 102 Jahre nach seinem Tod im sächsischen Radebeul kommt der Autor nun auch an die Semperoper – und zwar höchstselbst, also nicht etwa mit seinen Figuren Winnetou und Old Shatterhand beziehungsweise Kara Ben Nemsi.

Den 1842 im erzgebirgischen Ernstthal geborenen Abenteuerausdenker gibt es dafür gleich dreimal in dieser Uraufführung namens „Karl May, Raum der Wahrheit“. Zwei Sänger, die den jungen und den alt gewordenen May darstellen, sowie einen Sprecher, der in verschiedene Phasen und Zustände des Autorenlebens schlüpft. Geschrieben wurde das Stück als Auftragswerk der Semperoper von Manos Tsangaris (Musik) und Marcel Beyer (Libretto) für die kleine Spielstätte Semper 2. Sowohl der Komponist (Jg. 1956) als auch der Schriftsteller (Jg. 1965) leben seit Jahren in Dresden und kamen erst hier in Berührung mit dem eher unsteten Verfasser von fantastischen Geschichten aus der weiten Welt des Wilden Westens sowie aus dem Orient und nicht zuletzt aus der Enge des Erzgebirges, wo sich May zunächst mit Kolportagen ausprobierte. Schon vorab haben sie bekundet, „keine gesungenen Festspiele“ ausrichten zu wollen. Wer den sehr ernsthaften Tsangaris, der 2016 als Künstlerischer Leiter die Münchener Biennale übernehmen wird, und den nicht minder seriösen Beyer, der in diesem Jahr sowohl mit dem Kleist- als auch mit dem Oskar-Pastior-Preis für sein Schaffen geehrt wird, kennt, dürfte von den beiden auch kaum etwas in dieser Richtung erwartet haben. Was aber dann?

Auf der Bühne in diesem einstündigen Musiktheater begegnen wir dem Helden zunächst in Sträflingskleidern. Auch da schon drapiert mit dem typischen Schnauzbart. So deutliche Lebensstationen bleiben im weiteren Verlauf aber rar, auch wenn mal realistische Szenen mit May als Shatterhand sowie mit seiner berühmten „Silberbüchse“ aufblitzen. Ansonsten ist das Zwölf-Stationen-Drama eher ein Kaleidoskop mit Versatzstücken aus Leben und Werk von Karl May, keine erzählte oder gesungene Biografie. Herausgepickt haben sich die Autoren allerdings Fixpunkte wie Knast, erfundene Abenteuer, eigene Verwandlungen, die mit Angriff und Selbstverteidigung einhergingen, sowie die Schreibarbeit selbst, die zum Schluss dem Film begegnet und so die mediale Ausschlachtung dieses Œuvres schon vorwegnimmt.

Tapfer treffen da die Figuren „May jung“ und „May alt“ aufeinander, werden von „May spricht“ beziehungsweise „May schreibt“ kommentiert und von Mays beiden Ehefrauen Emma Pollmer und Klara Plöhn mehr umweht denn konfrontiert. Es ergibt sich freilich kaum ein Beziehungsgeflecht daraus, sondern mehr ein Sammelsurium der Vergänglichkeit von Sprache und Schaffen, sei es nun frei erfunden oder nicht. Karl May war ein Getriebener, ganz klar, der nach Höherem strebte und auf keinen Fall wieder in die Armut seiner Herkunft abstürzen wollte. Dazu modellierte er sich recht flexible Wahrheiten, deren virtuose Handhabung nur in einem einzigen Raum gelingen wollte – in seinem Schöpfer selbst.

Die Musik von Manos Tsangaris macht diesen Eindruck oft deutlicher als das gesprochene und gesungene Wort, zumal von dem etwa die Hälfte unverständlich überlagert ist (aber nachzulesen im Programmheft). Ein stark konturiertes Material, das Emotionen schafft, das den Realitätsverlust von May illustriert und die womöglichen Stimmen in seinem Kopf assoziativ tönen lässt. Diese Musik bildet klanglich das Zentrum des Stücks und ist auch optisch in die Mitte gesetzt. Denn der „Raum der Wahrheit“ hat quadratischen Grund, um das kleine Orchester herum ist die Spielstätte gezimmert, und an allen vier Außenseiten findet das Publikum Platz. Dahinter weht die weite Welt des Wilden Westens, eine scheinbar unberührte Landschaft, raumhoch auf Leinwand gepinselt, hinter der wiederum Stimmen aus Mays Romanen raunen. „Karl May, Raum der Wahrheit“ vermag also mit einigem Kniff so in Bann zu ziehen, dass man auch heute noch unentrinnbar mitten im Geschehen zu sein meint.

Die Inszenierung von Manfred Weiß saugt den Stoff schlüssig aus, kann aber die fragilen Momente des Plots auch nicht erhellen. Die Ausstattung mit Kostümen im Stile der Zeit stammt von Okarina Peter und Timo Dentler, ein von Chistiane Büttig geleiteter Projektchor übernimmt das Raunen von hinter den Leinwänden und agiert in wenigen Szenen auch aktiv auf der Szene.

Mit beträchtlichem Einsatz sind Julian Arsenault (Karl May alt), Rainer Maria Röhr (jung) und Julian Mehne (spricht/schreibt) bei der Sache. Auch Julia Mintzer und Romy Petrick als die beiden Ehefrauen Emma Pollmer und Klara Plöhn leisten Beträchtliches. Ähnlichen Aufwand betreiben die Musiker von der Giuseppe-Sinopoli-Akademie der Sächsischen Staatskapelle unter Erik Nielsen, der das sperrige und rhythmisch vertrackt gebrochene Musikmaterial mit hoher Konzentration leitet.

Karl May geht also auch ohne Indianer. Der Unterhaltungseffekt mag an den Freilichtbühnen größer sein. Hier überwiegt nachdenkliche Ratlosigkeit.

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