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Barış Yavuz (Schaunard), Ania Vegry (Mimi), Costa Latsos (Rodolfo), Michael Tews (Colline), Kay Stiefermann (Marcello), David Ameln (Parpignol), Damen und Herren des Opernchors, Jugendchor und Statisterie des Anhaltischen Theaters. Foto: Claudia Heysel

Barış Yavuz (Schaunard), Ania Vegry (Mimi), Costa Latsos (Rodolfo), Michael Tews (Colline), Kay Stiefermann (Marcello), David Ameln (Parpignol), Damen und Herren des Opernchors, Jugendchor und Statisterie des Anhaltischen Theaters. Foto: Claudia Heysel

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Kalte Welt und heiße Herzen – Giacomo Puccinis „La Bohème“ in Dessau

Vorspann / Teaser

Giacomo Puccinis Opern haben etwas von einer emotionalen Sturmflut. Ohne ihm zu nahe zu treten, könnte man ihn wohl neben Richard Wagner den nachhaltigsten Wegbereiter für die Blockbuster-Filmmusik à la Hollywood nennen. Beim Italiener kann man aber auch im handelnden, liebenden, betrogenen, scheiternden Personal, selbst in der räumlichen und zeitlichen Ferne der Vorlagen nachvollziehbare Menschen erkennen. Außer vielleicht bei „Turandot“, wo man sich vor der musikalischen Gigantomanie getrost damit in Sicherheit bringen kann, über den Geisteszustand der handelnden Personen nachzudenken. 

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Bei „La Bohème“ hat man kaum eine Chance, das Ergreifende auf Distanz zu halten. Die gar nicht mal weltbewegende, aber tragische Liebes- oder besser Lebensgeschichte erzählt von einer Wohngemeinschaft, die aus dem Dichter Rodolfo, dem Maler Marcello, dem Musiker Schaunard und dem Philosophen Colline besteht. Sie hausen mitten im Künstlerklischee-Arrondissement mit Blick über die sprichwörtlichen Dächer von Paris. Sie wurschteln sich am Rande des Existenzminimums so durch. Sie sparen an der Miete, erklären einfach einen ergatterten Hering zum Festmahl und träumen dennoch von einer frühlingshaften Zukunft. Bis sich der Dichter Rodolfo Knall auf Fall in die schüchterne Nachbarin Mimi verliebt. Die ist unheilbar krank und stirbt am Ende der Oper. Immerhin in den Armen ihres Liebsten und umringt von ihren Freunden.

Auf die Idee, so etwas als Liebestod zu verkaufen, kommt Puccini nicht. Er bleibt im emotionalen Koordinatensystem des Publikums. Weil dessen Mitgefühl ziemlich eindeutig vor allem durch Musik erreicht wird, funktioniert diese Geschichte auch dann noch, wenn man sie nicht mit den üblichen Versatzstücken von Armut und Elend optisch ausschmückt.

Dass Kälte auch als abstrakte Bühnen-Metaphorik ausreicht, haben Christian von Treskow (Regie), Dorien Thomsen (Bühne), Bernadette Weber (Kostüme) und Luca Fois (Video) jetzt mit ihrer Dessauer Neuinszenierung des Puccini-Dauerbrenners aus dem Jahre 1896 mit genau dosierter ästhetischer Ambition demonstriert. Hier wird niemandem das Elend ins Gesicht geschminkt. Die eine Frau, die ihre Habe im Einkaufswagen dabei hat, bleibt wohltuend im Hintergrund. Man stolpert auch nicht in die Falle eines ja doch nie echt wirkenden Armutsnaturalismus, sondern spielt metaphorisch mit der meteorologischen und gesellschaftlichen Kälte, denen sie alle nur ihre eigene Wärme entgegenzusetzen haben. Stell- bzw. Projektionswände im Hintergrund genügen für großformatige atmosphärische Stimmungsbilder. Meist von Schneekristallen und Vereistem. Aber auch von Blütenträumen. Die Künstler-Bleibe steht als vollverglastes Designer-Appartement mit Hexagon-Grundfläche mitten auf der Bühne. Auf seinen Stelzen hat das Nichts von einer Dachwohnung mit obligatem Ofenrohr. Allgemeine Kälte bleibt als Stilisierung allgegenwärtig. Vor allem aber durchlässig für die Entfaltung der Musik und die Stimmen.

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Kay Stiefermann (Marcello), Michael Tews (Colline) und Costa Latsos (Rodolfo). Foto: Claudia Heysel

Kay Stiefermann (Marcello), Michael Tews (Colline) und Costa Latsos (Rodolfo). Foto: Claudia Heysel

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Es ist geradezu ein Markenzeichen der Anhaltischen Philharmonie wie sie unter Leitung ihres GMD Markus L. Frank die Leidenschaft lodern lassen, aber zugleich die Balance zu den Stimmen zu wahren versteht. Dass hier auf der Bühne niemand mit Überdruck gegen den Graben ansingen muss, sondern sich immer gleichsam geborgen entfalten kann, überwältigt vor allem deshalb, weil die Dessauer ein Protagonistenensemble beisammen haben, das bei aller auch stimmlichen Profilierung der Charaktere harmoniert. Hier fügt sich auch der für den erkrankten Haustenor Costa Latsos eingesprungene Alex Kim als Rodolfo mit sicher strahlender und überzeugend leidender Tenoremphase ein. Kay Stiefermann als markanter Marcello, Barış Yavuz als eloquenter Schaunard und Michael Tews als gutmütig rauher Colline komplettieren ein vokal erfrischend unterscheidbares WG-Quartett. Bogna Bernagiewicz ist die kokette, auch schon bei ihrem ersten Auftritt sympathische Musetta. Sie braucht etwas Anlauf, serviert ihre große Arie (Quando m’en vò) dann aber am schnell herbeigeschafften Standmikro mit Verve und kassiert den verdienten Zwischenapplaus im Saal und die beabsichtigte Aufmerksamkeit ihres Ex Marcello auf der Bühne. Alexander Argirov als Vermieter Benoit, Kostadin Argirov als Alcindoro und David Ameln als Parpignol komplettieren das Ensemble. Der von Sebastian Kennerknecht und Dorislava Kuntscheva einstudierte Chor bzw. Jugendchor verschaffen sich in voller Formation an der Rampe eindrucksvoll Gehör. Die Krönung ist freilich der Dessauer Ensemble-Glücksfall Ania Vegry in der Rolle der Mimi. Jenseits allzu bewusst verhusteter Klischees, lässt sie ihre Stimme mühelos erblühen – mit ihrer Lebenssehnsucht genauso anrührend wie im Leiden und mit einem Timbre, das eh süchtig machen kann. Jubel für alle. Und das wegen, nicht trotz der einen oder anderen Pucciniträne.

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