Der englische Rockmusiker und Liedermacher Gordon Matthew Thomas Sumner, seit seiner Jugend bekannt unter dem Spitznamen „Sting“ („Stachel“), wurde 1951 in der englischen Kleinstadt Wallsend an der Tyne-Mündung nahe Newcastle geboren. Mit dem Musical „The Last Ship“ hat er 2013 seiner Heimatstadt, deren Bewohnern und der sterbenden Schiffbau-Industrie ein Denkmal gesetzt. Das Theater Koblenz hat sich an die deutsche Erstaufführung gewagt.
Koblenz, traditionell ein Verwaltungs-, Behörden und Militärstandort, scheint als Stadt nicht unbedingt prädestiniert für das Thema absterbender Erwerbszweige. Doch man muss ja nur ein wenig über den Tellerrand schauen: Im benachbarten Nordrhein-Westfalen geht der Braunkohle-Abbau seinem Ende entgegen, im südpfälzischen Pirmasens schloss im Frühjahr die letzte der zahlreichen Schuhfabriken, und auch die rheinland-pfälzischen Landwirte bangen um ihre Existenz. (Ich erinnere mich an einem denkwürdigen Tag im Spätherbst 2019. als ich in der Landeshauptstadt Mainz genau zwischen einen langen Traktoren-Korso und die parallel laufende „Fridays-for-Future“-Demonstration geriet. )Aber der Schiffsbau an der Küste ist doch einmal etwas Spezielles. Berufsethos und Zusammenhalt sind auf den Werften besonders ausgeprägt. Das Milieu ist rau, die Arbeit hart, aber man arbeitet arbeitsteilig, Hand in Hand, solidarisch und stolz. Und ein neues Schiff ist nicht bloß ein Produkt, es hat so etwas wie Seele. (Das Englische verwendet hier bezeichnenderweise das Personalpronomen „she“, nicht etwa „it“!).
Wallsend um die Jahrtausendwende, wie wir es in „The Last Ship“ erleben, ist immer noch eine Stadt der Werften, präziser der einzig verbliebenen Werft, die Stück für Stück die weniger erfolgreichen Konkurrenten übernommen hat. Der Zuschauer lernt den Ort und den Hafen, ihre Umgebung und ihre Geschichte an den sorgfältig zusammengestellten Video-Bildern von Georg Lendorff kennen, die fast den gesamten Abend im Bühnenhintergrund zu sehen sind und der bescheidenen Bühnenausstattung von Bodo Demelius eine dokumentarische Authentizität verleihen. Lange war in Wallsend der Lebensweg junger Männer vorprogrammiert und der Gang in die Schiffsbaulehre selbstverständlich. In der Schule wurden sie lediglich „zwischengeparkt“, wie Gideon Fletcher, eine zentrale Figur der von den US-amerikanischen Dramatikern John Logan und Brian Turkey Yorkey konzipierten Handlung, sich erinnert. Viel wichtiger war es, sich auf der Straße unter Gleichaltrigen zu behaupten.
Liebe und Kapital
Der unscheinbare Gideon, so berichtet der Heimkehrer nach 17 Jahren auf See, erwirbt sich den Respekt der Kameraden als ausgezeichneter Boxer, verliebt sich aber in die kluge und erfolgreiche Klassenkameradin Meg, der mit diesem Sport nicht zu imponieren ist. So lernt er heimlich tanzen – wobei ihm das Gespür des Boxers für die Bewegungen des Gegenübers zupass kommt. Bei einem Volksfest hat sein Werben um die Angebetete Erfolg; die Liebschaft führt zu einer Schwangerschaft, von der Gideon aber nichts mehr erfährt. Fluchtartig hat er sich nämlich zur Marine gemeldet, nachdem ihm sein (in Folge eines Werksunfalls invalider) Vater gedrängt hat, in seine Fußstapfen zu treten und buchstäblich seine alten Arbeitsschuhe anzuziehen. Tatsächlich bleibt für diejenigen, die aus der Enge und Geborgenheit des Milieus ausbrechen wollen, die See ein Freiheitsversprechen, und für die, die sich trauen, auch eine reelle Option. Wie prägend sie auf die Daheimgebliebenen wirkt, zeigt sich deutlich in den Bildern und Metaphern, die ebenso wie der regionale Dialekt der „Geordies“ die Träume, Gedanken und Redewendungen durchziehen. Wollte man für Liedtexte und Dialoge im Deutschen einen vergleichbaren Effekt erzielen, müsste man wohl das Missingsch der Waterkant wählen. Wolfgang Adenbergs Übersetzung, die bei den englischsprachigen Songs in der Übertitelung zu lesen ist, bleibt allgemeinverständlich, glättet aber auch den herben Charme des Originaltexts, den man im vorbildlich zusammengestellten Koblenzer Programmheft nachlesen kann.
Dramaturgisch besteht „The Last Ship“ aus einer Folge von Songs, die durch Dialog verbunden sind und ganz wesentlich durch den Chor (in diesem Fall den Koblenzer Opernchor und die Herren des Extrachors, einstudiert von Aki Schmitt) getragen werden. Doch stechen aus dem Kollektiv einige handlungstragende Figuren hervor. Da ist auf der einen Seite der Vorarbeiter Jackie White (Wolfram Boelzle), zupackend und ergebnisorientiert, auf der anderen Seite der Gewerkschaftsobmann Billy Thompson (Sebastian Haake), ein klassenkämpferisch orientierter Sozialist. Das ungleiche Paar wird durch die sich zuspitzende Werftenkrise zusammengeschweißt. Die konservative Regierung hat im Banne des Thatcherismus die einstigen Staatsunternehmen privatisiert; und die jetzigen Eigner agieren im Interesse des Privatkapitals. Ihr Vertreter, der Geschäftsführer Freddy Newlands (David Prosenc) eröffnet – zusammen mit einer arroganten Baroness Tynedale aus dem Wirtschaftsministerium (Cynthia Thurat) – den Arbeitern auf einer Betriebsversammlung die unmittelbar bevorstehende Schließung der Werft wegen Unrentabilität. Das letzte noch im Bau befindliche Schiff sei unverkäuflich. Ein juristischer Trick ermöglicht fristlose Entlassungen; nur ein Viertel der Belegschaft wird noch für die unqualifizierte und minder bezahlte Tätigkeit des Abwrackens benötigt. Die Reaktionen reichen von der Resignation bis zu verstärktem Widerstandgeist. Der Zwiespalt der Belegschaft spiegelt sich in zwei weiteren Figuren: Da ist Davey Harrison (Christof Maria Kaiser), Alkoholiker ohne Ambitionen, aber zugleich begnadeter Zimmermann, und auf der anderen Seite der belesene, zu intellektuellen Höhenflügen neigende Adrian Sanderson (Jona Mues).
Klassenkampf und Utopia
Eine zunehmend wichtige Rolle spielen die Frauen. Gideons Jugendliebe Meg Dawson (Monika Maria Staszak) blieb als minderjähriger Alleinerziehender eine berufliche Karriere verwehrt, aber als Betreiberin zweier Waschsalons und einer Imbissbude sowie als Wirtin der Hafengaststätte steht sie selbstbewusst auf eigenen Beinen. Den Rückkehrer Gideon empfängt sie erwartungsgemäß feindselig. Beider Tochter Ellen (Esther Hilsemer), ganze 16 Jahre alt, schlägt in ihrem Freiheitsdrang und ihrer Neugier dem Vater nach. Als Gitarristin und Sängerin einer regional erfolgreichen Rockband träumt sie von einer musikalischen Karriere und verschafft sich selbstbewusst den Zugang zu ihrem bislang unbekannten Erzeuger. Das Trio starker Frauen wird komplettiert durch Peggy White (Raphaela Crossey), Krankenschwester beim Sanitätsdienst der Werft und zugleich Ehefrau des Vorarbeiters. Sie ist zunehmend besorgt um den Gesundheitszustand ihres Mannes, der im Zuge der arbeitsrechtlichen Auseinandersetzungen offensichtlich die rechtzeitige Behandlung seines Lungentumors verschleppt hat.
Geschwächt durch die Krankheit und eine niederschmetternde Diagnose der Ärzte rät Jack zunächst zum Einlenken im Arbeitskampf. Doch dann kommt ihm die Idee zu einem hoch symbolischen Akt des Trotzes. Statt es abzuwracken, werden die Arbeiter das auf dem Dock liegende Schiff namens Utopia in einem Kraftakt binnen eines Tages fertigstellen. Die Belegschaft fängt Feuer, verbarrikadiert sich und geht mit voller Kraft an die Arbeit. (Das gerät auf der Koblenzer Bühne auch optisch eindrucksvoll, wenn die Schweißarbeiten nicht nur auf der Vorderbühne, sondern auch im Video die Funken sprühen lassen.) Jack selbst überlebt den Kraftakt zwar nicht und stirbt in den Armen seiner Frau. Der Heimkehrer Gideon aber erklärt sich solidarisch mit dem Widerstand und übernimmt die Aufgabe, das fertig gestellte Schiff in die Flussmündung des Tyne zu steuern. Währenddessen ziehen Staat und Geschäftsleitung Polizeikräfte zur Erstürmung des Werksgeländes zusammen. Newlands macht die Arbeiter für das zu erwartende Blutbad verantwortlich. Dem widerspricht Peggy als Wortführerin der Frauen, die sich der Werksbesetzung angeschlossen haben: Nach erfolgter Privatisierung der Werft gehe es doch wohl kaum mehr um öffentliche Interessen, und wie werde das denn abends in den Fernsehnachrichten aussehen, wenn die staatliche Polizei zugunsten eines einzelnen Unternehmers gewaltsam gegen unbewaffnete Frauen vorgehe? Newlands tritt den Rückzug an, einen vorläufigen natürlich, aber die Atempause reicht, um die Utopia vom Stapel zu lassen – und nebenbei Gideon und Meg eine Wiederannäherung zu ermöglichen.
Möglicherweise ist diese Schlusswendung der „Dreigroschenoper“ nachempfunden, in der der Bettlerkönig Peachum vom Polizeichef Tiger Brown die Festnahme des Räubers Macheath mit der Drohung erpresst, er werde Tausende Elendsgestalten zum bevorstehenden Krönungszug schicken, die man doch kaum alle von der Polizei niederknüppeln lassen wolle. Immerhin hat Sting in jungen Jahren selbst als „Mack the Knife“ auf der Bühne gestanden, und Peggys origineller Song „Zeigt mehr Respekt“, der den Geist der Solidarität beschwört und das gesamte Ensemble erfasst, zeigt in Akkord- und Melodieführung unverkennbar Weill‘sche Züge. Das Lied sticht damit ein wenig hervor unter den übrigen Songs, die sich stilistisch eher zwischen traditionellem Musical-Stil, Rock und Folk bewegen. Letzteren muss man hervorheben, denn die Anklänge an die in Northumbria noch recht vitale Volksmusik der Geordies sorgen für authentisches Lokalkolorit. Neben zwei Gitarren, E-Bass, Keyboard und Klavier ertönen im Orchestergraben als charakteristische Instrumente Fiedel, Flöte, Tin Whistle und das (oft wie ein Dudelsack eingesetzte) Akkordeon. Leider werden diese Klangfarben in Koblenz all zu oft von dröhnendem Schlagzeug und überlautem Gesang überlagert.
Überhaupt erliegen Regisseur Markus Dietze, der musikalische Leiter Karsten Huschke und ihr Team anscheinend all zu sehr dem durch die Mega-Musicals der letzten 30 Jahre begünstigten Klischee, man müsse das Publikum mit möglichst hoher Lautstärke überwältigen, und diese sei als solche schon ein positives Zeichen von echter Leidenschaft und emotionaler Intensität. Tatsächlich schlägt das pauschale Aufdrehen von Stimme und Verstärker sich in emotionaler Nivellierung, mangelnder Textverständlichkeit und räumlicher Desorientierung nieder. Lange braucht man als Zuschauer, um bei den wechselnden Solopassagen auf voller Bühne denjenigen zu finden, der gerade die Mundpartie bewegt, und so entgeht einem auch lange die dramaturgisch geschickte Profilierung der Hauptfiguren in den musikalischen Nummern. Auch zahlreiche Dialoge wirken forciert und überhastet – wie einst in schlecht synchronisierten, billigen Vorabend-Fernsehserien. Es passt einfach nicht zusammen, wenn Meg und Ellen einander wütend anschreien und im nächsten Moment unmotiviert in einträchtigen Duettgesang verfallen. Dabei besteht im klein dimensionierten historischen Koblenzer Theaterbau eine fast kammerspielartige Nähe zum Publikum, die zu ganz anderen Formen von Intensität einlädt.
Nachhaltiger Eindruck
Dafür, dass der Abend nach drei Stunden dennoch einen nachhaltigen Eindruck hinterlässt, sorgen mehrere Faktoren: Das spürbar hohe Engagement des gesamten Ensembles, die allmähliche Zunahme der nachdenklichen Dialogpassagen und der leiseren Töne im Lauf des Stückes, die geschickte Mischung kollektiver und individueller Erfahrungen im dargestellten Szenario, die passend eingesetzten Tanzeinlagen (Choreographie: Catharina Lühr) und jenes ikonische Bühnenbild gegen Ende, das das Schicksal der Werftarbeiter für kommende Generationen in drei Kirchenfenstern festhält. Deutlich spürt man im Nachklang der Aufführung den zweifachen Stachel des Stückes: Was bleibt übrig, wenn heute – unter wirklichen oder angeblichen Sachzwängen – alte Strukturen und Gewissheiten wegbrechen? Und wo ist inzwischen eigentlich dieses Schiff namens Utopia abgeblieben? Vielleicht ist Koblenz, wo so viele Behörden und Entscheidungsträger residieren, doch gerade der richtige Ort für diese Fragen …
Die Koblenzer Aufführung wird im September wieder aufgenommen. Im Februar 2022 kommt „The Last Ship“ dann auch an die Küste. Das Theater Lübeck plant eine Inszenierung mit Bezug zur lokalen Schiffsbaugeschichte.