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Karl der Große, der Erste Weltkrieg und „Astolfo auf dem Monde“ – Eine Aachener Uraufführung im Kontext rheinischer Gedenkkultur

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Das Karlsjahr zum 1200. Todestag Karls des Großen, eine Intensiv-Woche zum Ersten Weltkrieg im Theater der Stadt, dazu mehrere Ausstellungen zu diesem Thema, dazwischen ein Sinfoniekonzert mit einer Uraufführung – der Oktober in Aachen steckte voller Termine, die auf den ersten Blick nicht allzuviel miteinander zu tun hatten, beim genaueren Hinsehen und -hören aber durchaus.

Für das Jubiläum des fränkischen Königs und Kaiser Karl hat die rheinische Stadt im deutschen Westen einiges getan: Die Route Charlemagne und das Centre Charlemagne errichtet, eine große und spannende Ausstellung im Centre, in der Domschatzkammer und im Krönungssal des Rathauses veranstaltet und – wie fast jedes Jahr – den Internationalen Karlspreis verliehen. Das Theater Aachen spielt 2013–2015 eine Serie von drei Händel-Opern, die sich auf Ludivico Ariostos Ritterroman „Orlando furioso“ stützen. Das einst beliebte, heute fast vergessene Epos aus den Jahren 1506–1536 spielt während des Krieges, den Karl der Große gegen die Sarazenen führte und hat seinen Paladin und angeblichen Neffen Roland zur Hauptfigur. Und das Sinfonieorchester vergab einen Kompositionsauftrag an den aus Aachen stammenden Komponisten Anno Schreier.

Demgegenüber kam die Auseinandersetzung mit dem Ersten Weltkrieg erst spät in Gang. Gerd Curdes; ehemals Professor für Städtebau und Landesplanung an der RWTH in Aachen, Sprecher des staatenübergreifenden „Geschichtsnetzwerks Euregio Maas-Rhein“ und Mitorganisator der Themenwoche, berichtete eingangs, wie die belgischen Mitglieder des Netzwerkes im Vorjahr bei ihren deutschen Freunden vorgefühlt hätten: „Was macht ihr 2014?“ Auf die Antwort „Karl den Großen“ folgte das entgeisterte: „Und was ist mit 1914? Habt Ihr vergessen, dass Ihr uns damals überfallen habt?“ Tatsächlich hatte der 1. Weltkrieg gemäß dem berüchtigten Schlieffen-Plan in der Nacht auf den 4. August mit dem deutschen Einmarsch in das neutrale Belgien über Aachen, Eifel und Ardennen begonnen. Dem vorangegangen waren umfangreiche Vorarbeiten an strategischen Bahnlinien und Bahnhöfen, an Kasernen und am berühmt-berüchtigten Truppenübungsplatz Elsenborn. Der im Aachener Raum lebende Autor und Kabarettist Achim Konejung zeigte dazu eine instruktive Fotobildschau.

Nach dem erwarteten „Siegfrieden“, einem deutschen Erfolg also, dessen Bezeichnung nicht zufällig die mythische Siegfried-Gestalt anklingen ließ, war der Stadt Aachen eine Schlüsselrolle beim Aufbau und der Beherrschung eines von Deutschland dominierten westeuropäischen Wirtschaftsraumes zugedacht. Man schmiedete Pläne für eine großzügige Stadterweiterung mit Industrie und dichtem Bahnnetz, stellte trotz allgemeinen Baustopps bis Juni 1916 das neue Kurhaus an der Monheimsallee fertig und pflegte während des Krieges weiter ein lebendiges Kultur- und Theaterleben – nach Schließung des Statdtheaters lange Zeit vor allem im Eden-Palast an der Franzstraße. Aber noch im Frühjahr 1918 beschloss der Stadtrat auf Druck aus der Bevölkerung die Wiedereröffnung des Stadtheaters, und bis zum Herbst gab es mehrere Wagner- und Strauss-Premieren zu erleben.

Die Niederlage im November überraschte viele Deutsche, die einen Sieg erwartet hatten. Schließlich hatte der Feind nicht im eigenen Land gestanden. Dass die deutschen Truppen in den Nachbarländern Belgien und Frankreich eine 50–150 km breite Schneise der Verwüstung hinterließen, war den deutschen Zivilisten nicht bewusst. Und – eine wichtige Erkenntnisse der Themenwoche – die zurückgekehrten deutschen Soldaten, die es besser wussten, sprachen in der Regel nicht über ihre Erfahrung: „Traumatisierte Männer reden nicht.“

Karl den Großen nahm die deutsche Propaganda kräftig in den Dienst. Schon im Februar 1914, anlässlich des 1100. Todestages des Frankenkaisers, der doch ebenso deutsches wie französisches Kulturerbe repräsentiert, verkündete der Aachener Archivar und Historiker Albert Huyskens: „In dem Krieg gegen Frankreich (1870/71) hat dann das deutsche Volk Karls Schwert geschwungen. (...) Auch in Zukunft darf unser Volk in seiner höchsten Not auf Karl vertrauen.“ Kaiser Wilhelm II. interessierte sich bei seinen Aachen-Besuchen intensiv für den Zustand und die Renovierung des auf Karl zurückgehenden Aachener Domes. 1915 wurde wie in vielen anderen deutschen Städten eine Nagel-Aktion initiiert, bei der man gegen eine Geldspende für das Rote Kreuz oder karitative Einrichtungen Nägel in eine Holzfigur schlagen durfte. Dafür wählte man die Figur des legendären Helden Roland aus dem Umfeld Karls. „Schlag zu!“ hieß es in einem auf der ausgegebenen Nagel-Bescheinigung abgedruckten Gedicht, „dort liegen die Nägel von Erz, / Und es sehnet das wackere Aachener Herz, / Daß Roland dem Riesen die Rüstung blinkt / Und der Feinde Triumph dran wie Glas zerspringt! / Hammer, schlag zu!“

Anno Schreier: „Astolfo auf dem Mond“

Für zufällig wird man da kaum halten können, dass Anno Schreier (Jg. 1979) in Erfüllung seines Kompositionsauftrags ausgerechnet auf jene Ariost-Episode verfiel, in der der tapfere Ritter seinen Verstand verloren hat, buchstäblich als „rasender Roland“ das Land verwüstet und gegen Freund und Feind wütet. Um dem ein Ende zu machen, reitet im Epos der britischen Prinz Astolfo auf einem Mischwesen zwischen Pferd und Greifvogel, dem Hippogryphen, zum Mond und holt mit Hilfe des Evangelisten Johannes den Verstand des Helden zurück, der dort – wie in einem ordentlichen deutschen Archiv oder Weinkeller – in einer Flasche verstaut, zugekorkt und abgelegt wurde. Das etwa 20 minütige Stück beginnt mit einer launigen deutschen Vorrede, bevor ein Bariton-Solo die feierliche Anrede des Evangelisten an Astolfo proklamiert und der Chor die erfolgreiche Mission zum Mond schildert. Ein charakteristischstes musikalisches Moment ist die fanfarenartige Tonfolge „a-a-c-h-e“ für Aachen, die in verschiedenen Abwandlungen in meist schnellem Tempo große Teile des Werkes durchzieht und dabei oft skurril wirkt. Einprägsam ist auch die deutlich geschilderte Auffahrt zum Mond, einprägsam auch das chroralartige Thema, das die spätere Erlösung des Ritters beizeiten ankündigt.

GMD Kazem Abdullah, dem Sinfonieorchester, dem Opernchor und dem Sinfonischen Chor mit den beiden Solisten Rüdiger Nikoldem Lasa (Evangelist) und Burkhard Dinter (Sprecher) gelang eine ebenso plastische wie witzige Aufführung von „Astolfo auf dem Mond“. Etliche Feinheiten der Textvertonung dürften allerdings der Wahrnehmung des Publikums entgangen sein, das im Programmheft nur eine Übersetzung, nicht aber den italienischen Originaltext, vorfand. Ergänzt wurde das Programm durch Sergej Rachmaninows Klavierkonzert Nr. 3 in d-moll und Richard Strauss' „Sinfonia domestica“ op. 53. Im ersten Fall hatte man den Eindruck, dass der Solist Nikolai Tokarev, der GMD und das Orchester sich damit begnügten, den virtuosen Klavierpart zur Geltung zu bringen; eine weiter gehende interpretatorische Absicht war nicht zu erspüren. Strauss' sinfonische Dichtung erschien als sinfonisches Ungetüm voll aufgehäufter Polyphonie, ohne dass den satztechnischen Vertracktheiten die nötige Portion von musikalische Wärme beigegeben wurde, die das Hohelied des Komponisten auf Häuslichkeit und Familienleben erst verstehbar und genießbar macht. Interessant ist, dass beide Werke 1909 und 1904 in New York aufgeführt wurden. Die hier zu beobachtende Internationalität des Musiklebens ließ nach dem Ersten Weltkrieg deutlich nach. Strauss‘ Bemerkung zur „Sinfonia domestica“, „Ich finde mich ebenso interessant wie Napoleon oder Alexander den Großen“, ist ebenfalls bemerkenswert. Einerseits spricht aus ihr eine zur Überheblichkeit tendierende Selbstzufriedenheit, andererseits verrät sie eine sympathisch zivile Einstellung, die Größe – gegen den Geist der Zeit – nicht mit militärischen Erfolgen und charismatischem Führertum identifizieren mag.

„Ich finde mich ebenso interessant wie Napoleon oder Alexander den Großen“

Viele interessante Details waren dem Vortrag von Prof. Dr. Norbert Jers „Begleitmusik zum Kriegsgeheul. Musikalische und publizistische Aktivitäten“ zu entnehmen Etwa der Hinweis auf Max Regers „Vaterländische Ouvertüre, dem deutschen Heere gewidmet“, die das Städtische Orchester unter seinem jungen und kompetenten Musikdirektors Fritz Busch fünf Monate nach der Wiesbadener Uraufführung am 6.6.1916 in Aachen zur Eröffnung des Neuen Kurhauses spielte. Der Komponist türmt hier am Ende das damals noch nicht als Nationalhymne etablierte „Deutschlandlied“, die „inoffizielle“ deutsche Hymne „Die Wacht am Rhein“ und das als „Choral von Leuthen“ propagierte alte Kirchenlied „Nun danket alle Gott“ übereinander. Ein Autor der in Aachen erscheinenden kirchenmusikalischen Zeitschrift „Gregoriusblatt“ fragte sich, wie lange man denn noch das „Auslandsprodukt“ „God save the King“ als deutsche Kaiserhymne „Heil Dir im Siegerkranz“ singen wolle. 1912 schon, beim Niederrheinischen Musikfest in Aachen, hatte der Dirigent Karl Muck in seiner Partitur von Beethovens 5. Sinfonie dem Seitenthema des Finales (T. 64 bzw. 273) die Worte unterlegt „Doch der Tag wird kommen, Deutschland neu erstehen, seine Fesseln sprengen, weh, dir Frankreich!“

Kirchenmusikalische Parallelwelt

Jers, der lange an der Katholischen Hochschule für Kirchenmusik St. Gregorius in Aachen tätig war, sah in seinem sorgfältig mit Quellenangaben unterlegten Vortrag drei Möglichkeiten, wie Musik sich zum Krig verhalten könne. Sie könne als Waffe dienen, als Trost oder als Medium kritischer Reflexion. Während die Aachener Musikgeschichte etliche Beispiele für die ersten beiden Möglichkeiten aufweist, in vieler Hinsicht aber auch die Kriegsrealität ganz zu ignorieren suchte (Jers fand etwa im Gregoriusblatt eine „kirchenmusikalische Parallelwelt“), sind bislang keine Beispiele für eine „kritsche Musik“ bekannt. Der Geschmack des Publikums blieb konservativ, und es war erst der von 1927 bis 1933 als musikalische Oberleiter am Theater tätige Kapellmeister Paul Pella, der das Aachener Publikum mit Musik von Berg, Janacek und Strawinsky bekannt machte.

Umstritten bleibt die Figur Peter Raabes, der von 1920 bis 1934 als GMD amtierte. Angelastet werden kann ihm sein Einsatz für die nationalsozialistische Kulturpolitik, der Vorsitz in der Reichmusikkammer ab 1935, aber auch schon seine kriegsverherrlichende Rede von 1932 auf dem deutschen Weltkriegsfriedhof im belgischem Langemarck. Interessanterweise entzündete sich an der Darstellung Raabes im Anschluss auch Widerspruch aus dem Publikum. Wer geglaubt hatte, die Verwicklung der deutschen Musik in Kriegsideologie und -maschinerie ließe sich heute aus nüchterner Distanz diskutieren, sah sich getäuscht: Im Umgang mit der Musikgeschichte der letzten 100 Jahre haben Emotionen offensichtlich immer noch eine lange Tradition.

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