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Die Fleischereiangestellten kriechen und sitzen auf dem Boden, zwei kitteltragende Menschen haben eine Auseinandersetzung: Die eine Person steht auf einem verhüllten SUV und hält der anderen eine Schrotflinte an die Stirn.

Symbolträchtiges Bühnengeschehen: Uraufführung der Dystopie „missing in cantu (eure paläste sind leer)“ beim Kunstfest Weimar. © Candy Welz.

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Katastrophe mal Drei: Die Uraufführung „missing in cantu (eure paläste sind leer)" beim Kunstfest Weimar

Vorspann / Teaser

Die Uraufführung von Johannes Maria Stauds und Thomas Köcks „missing in cantu (eure paläste sind leer)“ als von der Ernst-vom-Siemens-Stiftung geförderter Kompositionsauftrag erweist sich beim Kunstfest Weimar als Hybrid mit viel Technik, sprunghaften Parallelepisoden und vor allem dem Sich-Abfinden damit, dass unsere Welt nicht mehr zu retten ist. Starker Applaus.

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„Ciao!“ ist das letzte Wort in Köcks vom Schauspiel zum Libretto gewordenen Text. Und auch dieser ist ein Paradox. Denn weitaus aufschlussreicher als die Handlung auf drei Ebenen wäre der Weg zu der mit langem und nicht besonders intensivem Premierenjubel bedankten Uraufführung.

„Missing in cantu“ springt auf drei Ebenen von Pointe zum Tableau oder nächsten makabren Sketch. Auf dem Amazonas sucht eine spanische Expedition unter dem Konquistador Don Gairre (Alexander Günther) nach dem legendären El Dorado. Die Mannschaft ist erschöpft und demoralisiert. Der kastilische Gesandte Don Stepano (Oleksandr Pushniak) wird entmachtet und der Missionar Don Miguel (André Matos Rabello) zum König von Eldorado ernannt. Im Regenwald kommt es zu einem Terrorregime und der peinlichen Befragung einer als Hexe angeklagten Frau (Camila Ribero-Souza).

Die zweite Ebene zeigt die drohende gesellschaftliche Zersetzung in den USA der Gegenwart durch den in der Mitte der Gesellschaft angekommenen Missbrauch von Beruhigungsmitteln mit massiv erhöhten Sterbezahlen. In einer visionären nahen Zukunft blickt ein Seher auf den globalen Niedergang und fragt mit seiner Gefährtin Echo (Emma Moore) danach, ob durch Partizipation, Mitdenken und persönliches Engagement etwas zum Besseren hätte gewendet werden können. Die Betonung liegt auf „hätte“ – das war’s: „Ciao!“

Das ist das auch das Schlusswort der dritten Ebene, die Otto Katzameier in der Partie eines Sehers aus der nahen Zukunft mit einem saloppen Winken genüsslich auskostet. Nicht nur das zeigt Köcks flapsige und natürlich human gedachte Haltung. Mit schon lustvoller Aktionsfülle zeigt die Weimarer Operndirektorin Andrea Moses Auswirkungen des Expansions- und Wachstumsstrebens im tödlich endendem Drogenkonsum und Ausgrenzungen. Höhepunkt Eins dieser Farce über die westliche Welt am Abgrund ist eine Szene im Schlachthaus unter gehäuteten Rindern am Haken, während der das gesamte Fleischindustrie-Personal in weißen Kitteln an Opiat-Überdosen krepiert. Zum Höhepunkt Zwei gerät die Szene, wenn eine Investigativjournalistin eine Hausbesitzerin unter Drogen ausforschen will und von dieser mit Schusswaffe beballert wird.

Moses’ Soziostudien enden im Musiktheater immer ehrlich und deshalb selten positiv. Jetzt hat sie mit Köck und Staud „Globale Lähmung“ diagnostiziert, die Hoffnung also totgesagt. Einigermaßen entschädigt für die miesen Zukunftsaussichten wird man durch das phänomenale Bühnenbild von Raimund Bauer. Der Palast des Sehers – das Eldorado? – ist ein Goldquader auf drehender Schräge, in dem tropische Pflanzen hinter Glas vor sich hindörren. Historisches Abenteuer, Krimi mit trister Doku, Space Opera – die Kunstfest-Resignation ist grell und bunt.

Alles ist mit allem verbunden. Diesen Topos macht das Kunstfest Weimar, in dem Grenzen zwischen künstlerischer Oberhoheit und von der Thüringer Sozialtopographie zu globalen Krisenherden springenden Sachthemen immer durchlässiger werden, zum Kern seiner Handlungsagenda. Also auch das Axiom einer in kapitalistischen Zyklen vorgelebten Ökonomisierung von Prozessen und Aufwand. Bei der Einführung sprach Johannes Maria Staud davon, dass er ständig um eine Tonsprache in Entsprechung oder Rebellion zum Text positionieren musste. Zudem mustert er das Rezitativ als Informationsträger für das Musiktheater der Gegenwart als überholt. In Konsequenz bleiben weite Teile des Textes unvertont und lange Dialogszenen machen vergessen, dass es sich um Musiktheater handelt. Der Seher fällt schließlich doch in eine fast schamhaft mit Sprechtext durchbrochene Deklamationsmusik großen Stils. Aber den Kern der Partitur bilden Zitat-Flächen und elektronische Emanationen.

Sarah Mehnert gibt eine Bilderbuchreporterin alter Schule, Jörn Eichler ist eine starke Ensemble-Säule an mehreren Rollenschauplätzen. Andreas Wolf am Pult hat alles im Griff, die Staatskapelle Weimar wirkt durch mehreren Soli zwar stark beschäftigt, in der Fülle des elektronischen Wohllauts allerdings etwas unterrepräsentiert. Erstaunlich die Leistung des SWR Experimentalstudio, dessen Klänge und Effekte, die akustisch durch den Zuschauerraum wandern, leisten. Insgesamt wird die neue Musiktheater-Produktion allen gegenwärtig gültigen Konventionen und Etiketten gerecht.

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