Das gibt es auch im wirklichen Leben: Als Ohrenzeuge eines sich streitenden Ehepaars am liebsten im Boden versinken zu mögen. Aber wohin, wenn man im Wohnzimmer zweier sich erst anschweigender, dann monologisierender und schließlich keifender Leute sitzt?
Geschehen ist just dies einer Handvoll von Premierengästen zur Deutschen Erstaufführung der Kammeroper „Die kahle Sängerin“ von Luciano Chailly am Sonntag Abend in der Spielstätte Semper Zwei. Nach einigem Hin und Her, ob und wann das Stück – im Original „La Cantatrice calva“ – vor Publikum gezeigt werden kann, wurde nach der heiß ersehnten Wiedereröffnung des Kulturlebens in Sachsen rasch gehandelt. Schließlich weiß niemand, wie lange die jetzige Situation anhalten mag.
Bei besagtem Ehepaar scheint das so ähnlich zu sein. Mr. und Mrs. Smith, beide very british am lodernden Kamin, können von einem Moment auf den nächsten aus zärtlichem Säuseln ins giftige Kreischen umschlagen. Viel mehr als hohle Phrasen geben sie dabei aber nicht von sich. Für den 1909 in Rumänien geborenen Eugène Ionesco, der später in Frankreich zu einem der wichtigsten Nachkriegsdramatiker avancierte, sollen es genau diese sinnentleerten Sätze gewesen sein, mit denen er sein Englisch trainieren wollte. Daraus entstanden ist 1950 Ionescos erstes Theaterstück, quasi die Geburtsstunde seines Absurden Theaters.
Für den italienischen Komponisten Luciano Chailly (1920-2002), einst Musikchef der Mailänder Scala, wo sein Sohn (Ex-Gewandhauskapellmeister) Riccardo heute dieses Amt ausübt, war dieses Nonsens-Stück ein gefundenes Fressen. Er nahm den Text zur Vorlage für seine 13. Kammeroper, die 1986 in Wien uraufgeführt wurde und nun erstmals an einer deutschen Bühne herauskam.
Barbora Horáková hat diese „Nicht-Handlung“ in Szene gesetzt, das spärliche Publikum sitzt bei Familie Smith beinahe mit drin im pittoresken Wohnzimmer, das von Annett Hunger mit schrill gemusterten und zum Teil sogar fahrbaren Sesseln ausgestattet worden ist. Passend zum schrägen Wortlaut gibt’s eine Tischwippe, die den daran sitzenden Personen die einzige Tasse Tee vorenthält, weil die immer wieder wegrutscht. Auf die Spitze getrieben wird das Ambiente von einer Tür-in-Tür-Konstruktion mit jeweils drei Drehknäufen, wodurch manch Auftritt zum Slapstick gerät.
Denn es dauert nicht lang, da kommt das Ehepaar Martin hinzu und die Unterhaltung wird nur noch absurder, bizarrer, gipfelt in Nervosität, wozu auch das Dienstmädchen Mary sowie ein nach Feuer suchender Feuerwehrhauptmann beitragen. Irgendwann kommt abrupt die Titelfigur ins Gespräch. „Bei der Gelegenheit: Was ist mit der kahlen Sängerin? – Sie frisiert sich noch immer auf die gleiche Weise.“
Keine Handlung, banale Kommunikation ohne sinnhaften Inhalt, es sind köstliche Momente und Szenen absoluter Skurrilität. Die sechs Agierenden, von Benjamin Burgunder in herrlich schräge Kostüme gesteckt, gehen in ihren Rollen voll auf. Dilara Bastar und Peter Tantsits als Ehepaar Smith, Anna Kudriashova-Stepanets und Dogukan Kuran als Ehepaar Martin sowie Jennifer Riedel als Mary und Martin-Jan Nijhof in hellblauer (!) Brandschutz-Montur agieren hinreißend, beherrschen nicht nur den großen Auftritt, sondern auch das entlarvendste Augenrollen. Vor allem aber sind sie stimmlich enorm gefordert und bewältigen dieses teils exzentrische Tonmaterial durchweg mit Bravour.
Dasselbe lässt sich auch vom eigens hierfür zusammengestellten Projektorchester sagen, das unter Thomas Leo Cadenbach die höchst anspruchsvolle, ebenso illustrative wie theatrale Musik großartig meistert. Die einzelnen Personenpaare werden jeweils in Quintettbesetzung charakterisiert, mal von Holzbläsern, mal von Streichern und mal durch Zupfinstrumente von Mandoline bis Cembalo.
Die Person mit den längsten Haaren singt übrigens die Titelpartie der kahlen Sängerin. Eine überwältigende Vocalise aus dem Off. Zu sehen ist Mariya Taniguchi erst beim herzlichen Schlussapplaus. Bis dahin wurde der Hintergrund dieser intimen Spielstätte noch mit Videokunst von Sergio Verde illustriert, zerrinnende Uhren und Gesichter, die das Krude dieser Kammeroper noch unterstrichen haben. Dass im Programmheft von Dramaturgin Juliane Schunke Chaillys Libretto abgedruckt ist, verdient aufgrund der nicht immer gegebenen Textverständlichkeit besonderes Lob. Zumal der 1994 in Paris verstorbene Ionesco ein Mann mit Weitsicht war: „Wer sich an das Absurde gewöhnt hat, findet sich in unserer Zeit gut zurecht.“
- Termine: 18., 19., 21. und 22. Januar