Die aktuelle Kunstanstrengung des Deutschen Nationaltheaters Weimar ist gewaltig. Sie passt zu seinem Namen und ist im 100. Jahr der Novemberrevolution allemal zu loben. Schon, weil sie wieder einmal alle Sparten des Hauses in einem Kooperationsprojekt von Schauspiel, Musiktheater und Staatskapelle für die Theaterfassung von André Bücker und Beate Seidel mit Musik von Stefan Lano zusammenführt. Wenn es um die Aufführung einer Theaterversion von Alfred Döblins „November 1918“ geht, dann hat Weimar einen Standortvorteil. Nach dem brodelnden Vorspiel nach Kaiserreich und Weltkriegskatastrophe verdankt die wacklige erste deutsche Republik der Klassikerstadt immerhin ihren Namen.
Was Regisseur André Bücker versucht, ist nichts weniger, als aus Döblins im französischen und amerikanischen Exil von 1937-1943 entstandenen und erst nach dem Zweiten Weltkrieg veröffentlichten 2000-Seiten-Roman einen Theaterabend zu machen. Also der anhaltenden Mode zu folgen, nach der man Roman-Adaptionen und nicht als solche entstandenen Stücke auf die Bühne bringt. Kann man natürlich machen. Wenn man es kann. Am besten funktioniert das mit einem erkennbaren roten Faden für nachvollziehbares Personal oder mit einer starken, überformenden Theaterästhetik.
Die Textfassung, die Bücker und Beate Seidel herausdestilliert haben, und zu der Stefan Lano eine eigene Musik komponiert hat, ist nicht einfach nur ein Schauspiel mit Musik. Der Abend mäandert zwischen Melodram, politischem Agitprop-Theater und historischem Dokudrama.
Immer dann, wenn die Staatskapelle Weimar unter Leitung ihres 1. Kapellmeisters mit eigens von ihm komponierten instrumentalen Zwischenspielen oder mit Wagner zum Zuge kommt, wenn der Chor mit viel Einsatz und Effekt Zitatenaufwand betreibt, und Deutschlandlied, Internationale sowie diverse Arbeiter- und Freikorps-Lieder aufbietet, oder wenn Heike Porstein als geflügelter Engel mit von Lano vertonten Rilke-Gedichten Inseln der Besinnung bietet, ist der Abend im sicheren Fahrwasser. Da dominiert die ästhetische Form. Selbst wenn über Isoldes Liebestod ein Brülldialog über eine Vergewaltigung gelegt ist, ergibt das noch Sinn.
Erheblichen Wirkungscharme behält auch Jan Steigerts expressionistisch angehauchte Fabrik-Lazarett-Küchentisch-Versammlungsraum-Drehbühne. Wie ein Gemälde aus der Zeit als Ganzes von außen – praktisch nutzbar von innen. Die freihängenden Glasfenster liefern (hilfreiche) Projektionen des historischen Personals aus dem Geschichtsbuch.
Womit der Abend die geringste Ähnlichkeit hat, ist eine Meisterklasse für Schauspielkunst und Timing. Oder dafür, wie man einen Großroman auf einen Theaternenner bringt. Wohltuende Ausnahmen bieten vor allem Sebastian Kowski (als Motz und Teufel) und Sebastian Nakajew (auch als Schlitzohr Brose und Teufel). Die finden auf Anhieb zu souveräner spöttischer Distanz. Ihre sarkastisch kommentierenden Pointen treffen. Meistens.
Das Problem des Abends sind nicht diese beiden Kriegsheimkehrer Friedrich Becker (Max Landgrebe) und Maus (Thomas Kramer), die mit Hilde die gleiche Frau lieben und politisch zu Gegnern werden. Das Problem ist die politische Prominenz: Die Ikonen der Linken (und geistigen Ahnen der Polit-Elite der DDR) Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht und die beiden prominenten Sozialdemokraten Friedrich Ebert und Philipp Scheidemann. Die letzten beiden macht Bücker zu blanken Witzfiguren, zieht sie auf und lässt sie über die Szene wackeln. Der abgewirtschaftete Adel von Wilhelm II. über Hindenburg bis Schleicher scheinen aus Grosz-Bildern oder Simplicissimus-Karikaturen entsprungen zu sein. Markus Lesch und Johanna Geißler laden Liebknecht und Luxemburg angestrengt auf, entschärfen sie damit aber eher… Bei dieser Revue, die permanent zwischen Privatem und Politischem wechselt, werden viereinhalb Stunden, bei nur einer Pause, zu einer ziemlichen Anstrengung.
„Der Krieg ist zu Ende“ sagt die Mutter zu ihrem versehrten Sohn Friedrich. „Dass Krieg gewesen ist, ist nicht zu Ende“ antwortet er ihr darauf. Das ist eine der eher spärlichen Szenen, die das Ganze einmal schlaglichtartig auf den Punkt bringt. Sonst dominiert das Abarbeiten von Debatten in Dialogform. Vor allem im zweiten Teil hört man die Buchseiten allzu deutlich rascheln, wenn Passagen brav referiert werden.
Das Ende: Ein Engel mit Kopfwunde zur Linken. Rechts der resignierte Becker, der sich in sich selbst zurückgezogen hat. Dazu mit vollem Orchester das Finale von Wagners Liebestod. Da saust hinten noch eine mal der Holzhammer hernieder: Hilde und Maus mit Kinderwagen – privates Glück als Menetekel. Denn der Ex-Soldat und Ex-Revoluzzer kommt jetzt in SA-Uniform mit Hakenkreuzbinde. Da ist es in der Theater-Wirklichkeit in Weimar an authentischem Ort tatsächlich Fünf vor Zwölf.
Mehr Kunst, weniger Inhalt! ist man versucht, den Ausruf von Hamlets Mutter zu verdrehen. Aber dazu ist man zu erschöpft. Das Weimarer Premierenpublikum honorierte die Anstrengung seines Theaters, etwas Besonderes zu bieten. Man darf gespannt sein, wie das auf Dauer funktionieren wird.